„Es war fürchterlich“: Früherer NATO-Militär erklärt Trugschlüsse – und wie Rüstung (doch) funktioniert

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Ist die NATO auf Gefahren aus Russland vorbereitet? Ex-Top-Militär Darius Užkuraitis schildert seine Erfahrungen – samt Schrecken und Errungenschaften.

Vilnius – Vor mehr als zehn Jahren begann der Krieg im Donbass – damals hielt besonders Deutschland am Partner Russland fest. Mittlerweile, bald vier Jahre nach der Vollinvasion von Wladimir Putins Armee in die Ukraine und ungezählten hybriden Aktionen, gilt Russland vor allem als Gefahr. Die große Frage: Wie gut vorbereitet sind die NATO und die EU auf diese Bedrohung? Darius Užkuraitis bekleidete lange Jahre hohe Posten in Litauens Militär und der NATO. Im Gespräch mit dem Münchner Merkur von Ippen.Media erinnert er sich an erschütternde Fehleinschätzungen. Aber auch an schnelle Reaktionen.

Darius Užkuraitis war für die NATO tätig – im Hintergrund ein Foto der Übung „BALTOPS25“ in der Ostsee im Juni 2025. © Montage: Florian Naumann/US Marines/Zuma/Imago

Für die Zukunft stellt Užkuraitis beim Gespräch am Rande der „German-Baltic Defence Industry Conference“ in Vilnius eine sehr gemischte Prognose. Und der Oberst im Ruhestand und langjährige Rüstungsdirektor der litauischen Armee erklärt, wo es bei den Rüstungsbemühungen hakt.

Ex-NATO-Direktor erklärt ruppigen Lernprozess: „Es war fürchterlich“

Herr Užkuraitis, Sie waren Direktor des NATO-Energiesicherheits-Exzellenzzentrums. Russland greift in der Ukraine kontinuierlich Energieinfrastruktur an – und schafft damit große Probleme für die Menschen. Wie gut sind die NATO-Staaten vorbereitet?

Alle sprechen darüber, dass irgendjemand etwas tun soll, aber es gibt sehr wenig sichtbare Aktivität ...

Also nicht gut?

Wenn man sieht und hört, dass es ein Problem gibt, dann ist es wahrscheinlich bereits ein Thema. Einige Fragen sind aber sehr sensibel – deshalb heißt es nicht zwingend, dass nichts passiert, nur weil man nichts sieht. Wenn man gar nichts hört, kann es aber auch heißen, dass wir der Frage noch keine Aufmerksamkeit widmen. Lassen Sie mich ein Beispiel dafür geben, wie unterschiedlich schnell Staaten lernen.

Bitte.

Meine letzte Übung fand in Riga für die gesamte Ostsee statt, zusammen mit Deutschland und sogar Dänemark und Norwegen, die gar nicht an der Ostsee liegen. In der Vorbereitung schrieben wir Szenarios. Zum Beispiel einen Schaden an der Nord-Stream-Pipeline. Oder auch Vorfälle an Unterwasserkabeln oder mit Drohnen. Alle sagten: „Das ist doch unmöglich, vergiss es!“ oder „Das ist ja wohl eine Science-Fiction-Übung“. Einige kündigten gar an, ihre Teilnahme nochmal zu überprüfen. Am Ende waren schon vor der Übung alle drei Fälle in der Realität eingetreten.

Wie sah die Reaktion aus?

Dänemark hat nach dem Manöver binnen einer Woche alle Empfehlungen auf Regierungsebene behandelt. Andere Nationen haben den Report gar nicht zur Kenntnis genommen. Die NATO hat dann eine Überprüfung des „Central European Pipeline System“ angefragt.

Ein Pipeline-System, das unter anderem in Deutschland, Frankreich und Belgien die Kraftstoffversorgung zum Beispiel der NATO-Flugplätze sicherstellen soll.

Nach dieser Überprüfung setzten die Länder die Empfehlungen um, und wir haben das System getestet. Und es war fürchterlich. Niemand hatte erkannt, dass sieben Staaten betroffen sind und alle unterschiedliche Regulierungen haben. In Deutschland gibt es sogar die Bundesländer mit unterschiedlichen Regeln. Mancherorts war es verboten, händisch Leitungen zu bedienen! Aber die Übung war insofern erfolgreich, als dass wir diese Probleme erkannt haben. Binnen eines Monats gab es Vorstandstreffen, Treffen auf Botschafter-Level. Das war sehr effektiv. Die NATO hat jetzt verstanden, dass Energiesicherheit Teil des militärischen Entscheidungsprozesses sein muss. Bis die Signale als Russland allzu deutlich wurden, hat zum Beispiel die EU das strikt als nationale Aufgabe gesehen.

Zur Person: Darius Užkuraitis

Užkuraitis hat praktisch mit dem Fall des Eisernen Vorhangs seine Karriere im jungen litauischen Militär begonnen. Er führte mit der „Iron Wolf“-Brigade die zentrale Einheit des litauischen Heeres und war als Rüstungsdirektor für die Beschaffung des Militärs zuständig. Insgesamt sieben Jahre lang war er im NATO-Hauptquartier tätig, von 2021 bis zu seinem Ruhestand im Juli 2024 leitete er das „NATO Energy Security Centre of Excellence“. Heute berät Užkuraitis den Verband der litauischen Rüstungsindustrie, LDSIA.

Eine andere Frage ist die Rüstung. Sie beraten mittlerweile den Verband der litauischen Rüstungsindustrie. Was ist Ihr Rat als jemand, der die Seiten gewechselt hat – von Militär zu Industrie?

Ich würde gar nicht sagen, dass ich die Seiten gewechselt habe. Ich war einige Jahre als Rüstungsdirektor für die Beschaffung zuständig. Da habe ich erkannt: Wir können nicht vorankommen, wenn wir nicht engen Kontakt halten. Nicht nur mit der nationalen, sondern mit der internationalen Industrie – wir hatten in Litauen damals schon Systeme aus Deutschland und Norwegen beschafft. Und man muss diesen Kontakt verstetigen, denn die Industrie muss die Systeme ja auch instand halten. Ein gepanzertes Fahrzeug wie der Boxer bleibt 30 Jahre im Bestand, bis es verschlissen ist. Wenn es keine Ersatzteile mehr gibt, kann man böse Überraschungen erleben. Es braucht ein sicheres Format, um all das zu diskutieren.

Und Ihre Einschätzung – wie gut schlägt sich die NATO aktuell bei der Rüstung?

Ich kann nicht für die NATO sprechen. Einige Nationen nehmen Tempo auf, andere hadern und straucheln. Einige äußern sich lautstark, ermuntern andere, sind aber in der Realität selbst viel zu langsam. Die Budgets wachsen, aber wir haben Probleme, das Benötigte zu bekommen. Wenn eine Regierung nicht entschlossen genug ist, das Geld auch zu investieren, Teil der Entwicklung neuer Fähigkeiten zu sein, Geld für Forschung und Entwicklung bereitzustellen, Unternehmensrisiken zu teilen ... Ich meine: Regierungen sollten vorausgehen, nicht hinterherhinken.

Rüstungsprobleme: Sorge, teure Fehler zu machen – „Was, wenn Russland kapituliert?“

Woran hakt es?

Einige Länder haben Angst. Oder Regulierungen, die es verbieten, Risiken mit öffentlichen Geldern einzugehen. Wenn man beginnt, etwas Neuartiges zu entwickeln, gibt es natürlich das Risiko, dass es am Ende die Erwartungen nicht erfüllt. Und bei teurer Forschung gibt es in einigen Ländern Regeln, die Entscheidern Fesseln auferlegen. Nicht unbedingt den Top-Leadern, aber den Entscheidern in den Institutionen. Sie haben Sorge, Fehler zu machen. Das bremst alles. Für Rüstungsunternehmen sind eben Regierungen die einzigen Kunden. Sie können nicht ersatzweise an einen Supermarkt oder Autobauer liefern.

Muss man also umdenken, wenn man sich schnell rüsten will?

Wir haben in Europa jahrzehntelang ein friedliches Leben gelebt. Wir haben kleine „Expeditionsstreitkräfte“ gebildet – dafür reichte es vermutlich, kurzfristige Verträge zu schließen. Jetzt brauchen wir langfristige Rüstungsverträge, um neue Fähigkeiten aufzubauen. Aber die Regierungen scheuen sich. Da denken sich einige, „was, wenn Russland kapituliert?“ Aber natürlich geht es da beiderseitig um Risiko. Man kann auch mit langfristigen Verträgen für nicht mehr benötigte Panzer oder Munition dastehen. Es gehören immer beide Seiten dazu.

Welche Rolle kann die EU spielen?

In einigen Fällen kann sie den nationalen Regierungen einen Tritt in die richtige Richtung geben, für gemeinsame Projekte. Riesige Luftverteidigungsprojekte etwa. Aber bei einem europäischen Panzer zum Beispiel – Leclerc oder Leopard – sehe ich nicht, wie die EU die Bemühungen zusammenführen kann. Solange nicht die Industrie einen anderen Vorstoß startet und die nationalen Regierungen überzeugt. Die EU ist auch eine große, sperrige Organisation mit starken Regulierungen, die bei Technologien wie Drohnen, Robotik, KI schwer Schritt halten kann. Das Militär funktioniert „top down“, von oben nach unten. Die Zivilgesellschaft funktioniert andersherum. Ich würde aktuell bezweifeln, dass die großen Länder und Organisationen mental bereit sind, Prozesse zu beschleunigen, um etwa bei den technologischen Entwicklungen in den Unternehmen aufzuholen. (Interview: Florian Naumann)