Ukraine drängt Putins Jets immer weiter ins Hinterland
Das Ziel scheint der Weg zu sein: Mit wiederholten Drohnen-Attacken hat die Ukraine gezeigt, dass sie Russland kontrollieren könnte – wenn sie nur könnte.
Milerowo – „Das konkrete Ziel spielt keine große Rolle“, schreibt David Axe. Der Autor des Magazins Forbes beschreibt einen weiteren Angriff der Ukraine mit Drohnen, der möglicherweise erfolgreich gewesen ist. Oder erfolgreich allein deshalb, weil er hat stattfinden können: Wladimir Putin soll wissen, dass ihm durch den Ukraine-Krieg Ungemach selbst in der eigenen Heimat drohen kann. Auch in einem Wohngebäude, 1.000 Kilometer von der Front, soll eine Drohne eingeschlagen sein – in einem mehrstöckigen Wohnhaus. Die Ukraine zielt offenbar erneut auf Putins Reputation.
Wie das Magazin Newsweek aktuell berichtet, soll die Ukraine den nächsten russischen Militärflugplatz mit einem Drohnenangriff überzogen haben – die Folge waren Explosionen; über die Schäden liegen keine Informationen vor. Ziel war der russische Verwaltungsbezirk Rostow und dort der Luftwaffenstützpunkt Milerowo, der wenige Kilometer hinter dem russischen Einflussgebiet auf ukrainischem Territorium liegt. Laut Informationen vom dortigen Gouverneur seien etwa ein Dutzend Drohnen abgefangen worden, wie Yury Slyusar auf Telegram veröffentlicht haben soll. Ukrainische Behörden allerdings gehen von einer erfolgreichen Attacke aus, wie Newsweek schreibt.
Drohnen-Offensiven im Ukraine-Krieg: Erfolg wird von beiden Kriegsgegnern unterschiedlich definiert
Erfolg wird aber von beiden Kriegsgegnern unterschiedlich definiert. Die Ukraine habe bei ihren Angriffen nicht immer das Ziel, bestimmte Gebäude oder Ausrüstungsgegenstände zu zerstören, behauptet David Axe. Der Forbes-Autor bezieht sich mit seiner Behauptung auf die ukrainische Analysegruppe Frontelligence Insight, denen zufolge die ukrainische Führung anstrebe, „die Kosten des Krieges für Russland stets zu erhöhen“, wie die Gruppe formuliert. Die Ukraine wolle als David gegen Goliath unternehmen, was in ihrer Macht stünde: Putins Kreise einengen, das Risiko seiner Operationen erhöhen und vor allem eines: Angst verbreiten.
„Die russische Propaganda spielt traditionell die Bedeutung ukrainischer Drohnenangriffe herunter und führt die Zerstörung ukrainischer Einrichtungen als Folge ,herabfallender Trümmer einer abgestürzten Drohne‘ aus.“
Was zumindest in Teilen gelingt. „Die russische Propaganda spielt traditionell die Bedeutung ukrainischer Drohnenangriffe herunter und führt die Zerstörung ukrainischer Einrichtungen als Folge ,herabfallender Trümmer einer abgestürzten Drohne‘ aus“, hat Vadim Shtepa formuliert. Der Analyst des US-Thinktanks Jamestown Foundation bekräftigt allerdings die These von Frontelligence Insight, dass jede Drohne über russischem Territorium an Putins Image kratze.
Shtepa zufolge eröffneten Kampfdrohnen der Ukraine die Möglichkeit, erstens auf taktischer Ebene Erfolge zu erringen, beispielsweise durch Zerstörung bedeutender Logistik-Hubs. Aber noch wichtiger sei die durch Drohnen-Angriffe ausgelöste starke psychologische Wirkung. Mit den Drohnen-Angriffen nehme die Ukraine den russischen Bürgern die von der russischen Führung propagierte Gewissheit, dass der Krieg lediglich eine „Spezialoperation“ außerhalb ihres realen Existenzbereiches, dass der Krieg irgendwo weit weg sei, wie Shtepa formuliert.
Dilemma der Ukraine: „Drohnen sind noch immer nicht in der Lage, die Frontlinie zu verschieben“
Ihm zufolge sei inzwischen klar, dass ukrainische Drohnen nun fast jede Stadt im europäischen Teil Russlands bedrohen könnten. Allerdings endet dort die Macht der Langstrecken-Kriegsführung der Ukraine, wie Sherpa klarstellt: „Drohnen sind jedoch noch immer nicht in der Lage, die Frontlinie zu verschieben und die von Russland besetzten ukrainischen Gebiete zu befreien.“
Erst im August hatte die Ukraine ihrem fast übermächtigen Gegner Russland bewiesen, wie lang ihr Arm werden könnte. Sie hatte Rache genommen für einen Bomber-Angriff im Mai dieses Jahres – geflogen hatten den Angriff drei Tu-95MS-Bomber vom Luftwaffenstützpunkt Olenya südlich von Murmansk. Drohnen der Ukraine sollen die fast 2.000 Kilometer in den Norden Russlands zurückgelegt und den Flugplatz sowie einen strategischen TU-22M3-Bomber beschädigt haben; das berichtete die Ukrainska Prawda. Diktator Wladimir Putin kann sich mittlerweile in seinem eigenen Reich nicht mehr sicher fühlen – was jetzt definitiv erneut bewiesen worden ist.
Jüngst hatte die Ukraine möglicherweise auch Flugplätze der Russen in der Arktis-Region angesteuert – jedenfalls waren dort Explosionen registriert worden; deren Ursache ist allerdings noch offen, abgeschossene Drohnen der Ukraine können eine mögliche Ursache sein. Newsweek hatte kürzlich gemeldet, dass der Krieg offenbar zwischen einem Machtkampf zweier starrsinniger Männer ausartet und mehr oder weniger öffentlich ausgetragen wird. Nachdem US-Präsident Joe Biden der Ukraine den Einsatz von West-Waffen auf russisches Territorium genehmigt und die Ukraine Putins Reich auch tatsächlich beschossen hatte, antwortete der mit dem Abschuss einer Oreschnik-Rakete.
Putins Anlauf zum Kräftemessen: Drohung eines „technologischen Duells“ – demnach folgt Rakete auf Rakete
Allerdings legte Putin vor einigen Tagen nach mit der Drohung eines „technologischen Duells“ – demnach folgt Rakete auf Rakete. Bis zu einem Ende, von dem noch niemand sagen kann, wie das aussieht. Vadim Shtepa stürmt vor mit einer steilen These: „Der Kreml ist sich bewusst, dass er den Drohnenkrieg verliert“, schreibt der Analyst. Das begründet Shtepa einerseits damit, dass in der Ukraine Drohnen-Start-ups in vielen Garagen zu finden und die technischen Voraussetzungen quasi demokratisiert seien, in Russland aber wiederum diese Waffengattung stark zentralistisch und damit viel zäher entwickelt würde. Auch die Drohnentechnik soll, laut Shtepa, als „Herrschaftswisisen“ gehandhabt werden.
Andererseits hat sich Russland die Angriffe auf sein Hinterland bisher geduldig gefallen lassen. „Durch Angriffe auf Ziele tief im Inneren Russlands hofft die Ukraine, ihre Verbündeten davon zu überzeugen, dass ihre Ängste vor einer Eskalation stark übertrieben sind, und Putins rote Linien als Bluff zu entlarven, der den Westen einschüchtern soll“, schreibt Giorgi Revishvili. Dem Analysten des US-Thinktanks Atlantic Council zufolge sei demnach jede Drohnen-Attacke ein Werbefeldzug für den ultimativen Angriff auf den Riesen, der vielleicht doch nur auf tönernen Füßen steht.
„Die Langstreckendrohnenkampagne der Ukraine war eine der wichtigsten Entwicklungen des Krieges im Jahr 2024“, behauptet Revishvili. Allerdings hat auch der aktuelle Drohnen-Einschlag in einem Wohnhaus in der 1.000 Kilometer von der Frontlinie entfernten Stadt Kasan in der Region Tatarstan noch keine Demonstrationen vor dem Kreml ausgelöst. Die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) hat in ihrem Bericht konstatiert, die Ukraine hätte mit Drohnenangriffen „den Krieg ins Herz Russlands getragen“ – was offenbar an der Gesamtlage wenig ändert.
Denn AP berichtet in der gleichen Meldung davon, dass Moskaus Truppen in der Ostukraine unaufhörlich voranschritten. Das russische Verteidigungsministerium habe demnach mitgeteilt, „seine Streitkräfte hätten die Kontrolle über das Dorf Kostjantynopolske in der ukrainischen Provinz Donezk übernommen, nur zehn Kilometer von der belagerten Stadt Kurachowe entfernt, die sie einzukesseln versuchen“.
Ukraine in Zugzwang: Umschwung nur durch perfekten Sturm aus Verlusten und Zusammenbruch
All das ist für die Katz‘ – behauptet zumindest Maria Snegovaya: Auch wenn sich durch die Sanktionen die Lebensbedingungen der einfachen Menschen graduell verschlechterten, führte das nicht zu einem generellen Zweifel an Putins Regime, schreibt die Analystin des Thinktanks Atlantic Council. Dazu seien die Angriffe der Ukraine in Qualität und Quantität noch zu erträglich, wie sie nahelegt – der Russe zeige zu viel Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Belastungen. „Betrachtet man vergleichbare Fälle wie den Afghanistankrieg, der zum Untergang der Sowjetunion beitrug, scheint es, dass nur ein perfekter Sturm aus militärischen Verlusten und wirtschaftlichen Zusammenbruch einen größeren Umschwung in der öffentlichen Meinung bewirken könnte“, schreibt Maria Snegovaya.
Eine solche „Massenverzweiflung“ erscheint ihr aber noch in weiter Ferne. Solange könne Putin auf den Status quo bauen. Was auch militärisch gilt. Dass die ukrainischen Angriffe auf den Flugplatz im Bezirk Rostow Sinn ergäben, stünde außer Frage, bilanziert Forbes-Autor David Axe. Sie manövrierten die Russen in ein „Zeit-Distanz-Dilemma“. Die große Evakuierung der Kampfflugzeuge hat möglicherweise wertvolle Flugzeuge vor der Zerstörung durch den jüngsten Drohnenangriff bewahrt. Das widerspricht der Befürchtung, dass die ukrainischen Angriffe auf den Flugplatz der Oblast Rostow sinnlos sind. Die Angriffe zwängen die Russen in ein Zeit-Distanz-Dilemma, worauf Axe hindeutet.
Russland müsse seine Luftwaffe immer weiter ins Landesinnere zurückziehen; dadurch müssten sie über viel weitere Strecken hinweg operieren, um effektive Angriffe fliegen zu können. Jede einzelne ukrainische Drohne über russischen Flugplätzen führt zu selteneren Attacken an der Front und viel weniger Zeit über ukrainischen Stellungen. Auch wenn Drohnen keine Flieger direkt treffen, zeitigen sie eine Wirkung, wie Axe folgert: „Natürlich schont die russische Luftwaffe ihre Flugzeuge. Aber dadurch werden sie weniger nützlich.“