Klein, leicht verfügbar und entsetzlich effektiv. Nach dem Attentat von Mannheim steht ein geschocktes Land vor der Frage, wie es sich gegen die Tatwaffe Messer verteidigen soll. Ein Münchner Polizist hatte mit dem Thema eine bittere Erfahrung.
Bei den Polizisten in Westfalen ist Dieter Walter eine Legende. „Handkanten-Walter“ war lange Zeit in Münster als Ausbilder tätig. Er weihte die jungen Beamten in die Geheimnisse des Nahkampfs ein. Und in dessen Schrecken. Immer wieder mahnte er seine Schülerinnen und Schüler, ein Messer sei eine furchtbare Waffe. In der Hand eines geübten Täters sei ein Messer oftmals gefährlicher als eine Pistole.
Eine Kugel könne irgendwo in der Hüfte oder der Schulter stecken bleiben. Der gezielte Stoß eines Messers dagegen könne eine Arterie zerreißen – und den Tod des Angegriffenen bedeuten. Im Training führte Walter vor, wie schwer es sei, sich gegen ein Messer zu wehren. Auf der Judomatte ließ er regelmäßig zwei Schüler gegeneinander antreten. Dem einen gab er einen roten Farbstift in die Hand. Der andere sollte versuchen, Körpertreffer des Stiftes abzublocken. Die Duelle endeten meist mit zahllosen roten Punkten auf dem weißen Karateanzug des Verteidigers. Jeder rote Punkt hätte im Ernstfall bedeutet, dass das Messer sein Ziel erreichte.
1490 Messerangriffe mehr als im Jahr zuvor
Rote Punkte sind inzwischen in jedem Winkel des Landes zu erkennen. Sie breiten sich aus wie eine Seuche. Die Zahl der Messerangriffe wächst und wächst. Im vergangenen Jahr nutzten, laut „Polizeilicher Kriminalstatistik“ (PKS), etwa 14 000 Verbrecher bei ihren zum Teil schweren Delikten ein Messer als Tatwaffe. Das waren 1490 Messerangriffe mehr als im Jahr zuvor.

Die Klinge mag ein banales, billiges Werkzeug sein – aber gerade das macht sie für Kriminelle so attraktiv. Messer sind leicht verfügbar. Sie liegen in der Küchenschublade, warten im Kaufhaus oder im Internet auf all jene, die sich bewaffnen wollen. Um sich auf der Straße zu beweisen. Um sich, angeblich, verteidigen zu können. Um drohen zu können. Um zu stechen, verletzen und töten zu können.
Der 25-jährige Afghane Sulaiman Ataee stach am vergangenen Freitag auf dem Marktplatz in Mannheim auf den 29-jährigen Polizisten Rouven L. ein. Immer wieder trafen die Hiebe des Attentäters den Kopf und den Hals seines Opfers. Ein Video dokumentiert die Tat. Die Bilder zeigen einen schnell agierenden Angreifer, der ohne jede Hemmung und offenbar zielgerichtet auf die verletzlichen und ungeschützten Körperbereiche des Polizisten einsticht. Bis der Schuss einer Pistole ihn stoppte, hatte der Attentäter sechs Personen zum Teil schwer verwundet. Der Beamte Rouven L. erlag seinen Verletzungen.
Mannheimer Attentäter: Unauffällig, angepasst, radikal
Der Attentäter von Mannheim kam ohne Schusswaffen aus, ohne Bomben, ohne Sprengstoffgürtel. Und doch verursachte er mit seinem öffentlich inszenierten Massaker eine Schockwelle, wie sie ein Massenmörder nicht größer hätte auslösen können.
Das Land zittert. Vor Trauer, Unruhe, Angst und wohl auch vor Wut. Der Täter suchte vor elf Jahren als Jugendlicher Schutz in Deutschland. Er lernte Deutsch, heiratete, gründete eine Familie. Er wirkte freundlich, unauffällig. Allenfalls verschlossen. Zwar wurde sein Asylantrag abgelehnt, sein Aufenthaltsrecht aber immer wieder verlängert. Zunächst wegen seines Alters. Später wohl auch wegen seines scheinbar vorbildlichen Verhaltens.
Doch irgendwann muss sich der nette Familienvater aus dem neunten Stock eines Hochhauses in Heppenheim verwandelt haben. Ataee, darauf deuten die Ermittlungen, tötete nicht spontan aus irgendeiner Laune heraus. Sein Glaube trieb ihn wohl in den Fanatismus. Sein Fanatismus befeuerte wohl seinen mörderischen Hass.
Inzwischen hat der Generalbundesanwalt das Verfahren übernommen: Der Tatverdächtige sei religiös motiviert. Sein Verbrechen beeinträchtige die Sicherheit des Landes. Selbst wenn noch nicht klar ist, ob eine Terrorgruppe oder irgendein Hetzprediger das Blutbad von Mannheim veranlasste – Ataee passt perfekt ins Bild eines islamistischen Attentäters: ein „Schläfer“, der sein Umfeld über Jahre in Sicherheit wiegt, um dann mit einem einzigen maßlosen Verbrechen den größtmöglichen Schrecken zu verbreiten. Mit dem einfachsten Werkzeug. Einem Messer.
Messer gilt in bestimmten Kreisen als ein unverzichtbares Utensil
Ein tödliches Instrument, das nicht nur Islamisten für sich entdeckt haben. Messer, so konstatiert der Züricher Kriminologe Dirk Baier, seien „Jedermannswaffen“. Die leichte Verfügbarkeit, die ja schon immer galt, erklärt aber für den Forscher nicht die Zunahme der Straftaten, bei denen Messer zum Einsatz kommen. Offenbar seien „gewisse Hemmschwellen“ gefallen. Statistisch kommt es in Deutschland jeden Tag zu drei Dutzend Messerattacken. In Mannheim wurde nur wenige Tage nach dem Polizistenmord, in der Nacht zum Mittwoch, ein AfD-Gemeindesratskandidat mit einem Messer angegriffen und verletzt.
Tatsächlich gilt ein Messer in bestimmten Kreisen als ein unverzichtbares Utensil. Junge Männer zwischen 18 und 30 Jahren, ledig, ohne Ausbildung, ohne Chancen – so skizziert der Kriminologe Rudolf Egg die Klientel der Messerträger. „Es ist jene Gruppe, die auch bei anderen Gewalttaten dominiert.“
Bei Messerangriffen ist der Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger extrem hoch. In Berlin etwa ist für jede zweite Messerattacke ein Ausländer verantwortlich. Der Migrationshintergrund, bestätigt Egg, spiele „schon eine Rolle“. Entscheidend aber sei, dass Männer in „instabilen Situationen“ bei einer Waffe Halt suchen.
Forscher Baier erkennt in der Messer-Mode ein „Peer-Phänomen“. Wer sich in Freundesgruppen bewege, in denen das Messer dazugehöre, trage „schnell auch ein Messer“.

Münchner Polizist: Alle Männer hatten ein Messer dabei
Ein Münchner Polizist erinnert sich im Gespräch mit FOCUS an einen Einsatz vor einem Einkaufszentrum in der bayerischen Hauptstadt. Zwei Jugendgruppen – eine aus dem Balkan, die andere aus dem Nahen Osten – seien dort damals aneinandergeraten.
Kurz bevor sich die aggressive Stimmung in Gewalttätigkeiten hätte entladen können, griffen die alarmierten Polizisten eines SEK-Kommandos ein. Sie trennten die Gruppen, durchsuchten die Jugendlichen. „Jeder, wirklich jeder dieser Burschen hatte ein Messer in der Tasche oder am Gürtel.“
Alles sei dabei gewesen: Stilett, Dolch, Klapp- und Springmesser. Auch zweischneidige Kampfmesser, wie sie von militärischen Spezialeinheiten benutzt werden. „Alle hatten eine Antwort parat: „Ich habe das Messer dabei, damit ich mich verteidigen kann.“
Und zustechen kann. Am besten als Erster. Messer, weiß Kriminologe Baier, würden häufig ohne großen Vorsatz als Waffe verwendet. Das Stechen und Stoßen sei vielmehr die letzte, lebensgefährliche Stufe einer „situativen Eskalation“. Davon zu unterscheiden sei der bewusste, „intentionale“ Einsatz eines Messers.
So wie extremistische Gewalttäter das Messer nutzen. Unvergessen sind die entsetzlichen Propagandavideos der IS-Killer, die ihre Gefangenen mit Messern enthaupteten. Die Verbrechen wurden als Schlachtrituale inszeniert – und so das Grauen gesteigert.
Vor zehn Jahren etwa waren im Internet „Lehrvideos“ des IS zu sehen. Die Terror-Produzenten gaben darin detaillierte Anweisungen, wie Polizisten mit einem Messer zu töten seien. Ein Attentäter, so lehrte der Film, solle sich einem Polizisten nähern, ihn „austricksen“, indem er dessen Blick ablenke. Etwa mit einem Stück Papier. Eine Szene zeigt, wie ein betont harmlos wirkender Attentäter einem Uniformierten ein Messer oberhalb der Schutzweste seitlich in den Hals rammt. Das Video stellt verschiedene Messertypen vor, erklärt ihre Handhabung, wie sie am Körper zu verbergen sind.
Tatwaffe Messer - der Schwerpunkt im FOCUS Magazin

Die neue Debatte nach dem Angriff von Mannheim - jetzt im aktuellen FOCUS Magazin.
Jahrelanges Leiden des Opfers
Die Lehrer fanden ihre Schüler. Auch in Deutschland. Den Videolektionen gemäß griffen Messerattentäter in Würzburg, Duisburg, Dresden und Hamburg an. Geschah auch der Polizistenmord von Mannheim nach dem IS-Drehbuch?
Schon einmal wurde ein deutscher Polizeibeamter das Opfer einer derartigen terroristischen Messerattacke. Im Februar 2016 griff die damals 15-jährige Safia S. im Hauptbahnhof von Hannover einen Bundespolizisten mit einem Messer an. Sie verletzte den Beamten durch mehrere Stiche in den Hals lebensgefährlich.
Das Mädchen, so ergaben die Ermittlungen, war schon von klein auf vom IS geschult worden. Über Jahre hielt sie per Chat Kontakt zu ihren Instrukteuren. Der Polizist, heute 42 Jahre alt, leidet noch immer an den Folgen des Attentats. Der Beamte, so berichtet einer seiner Kollegen, gerate immer wieder in „seelische Krisen“. Safia S., zu sechs Jahren Haft verurteilt, ist längst wieder in Freiheit.
Was tun mit entlassenen Radikalen?
Frühere IS-Mitglieder, die als „Veteranen“ von Syrien nach Deutschland zurückkehren oder aber nach der Verbüßung ihrer Haft aus deutschen Gefängnissen freikommen, gelten den Sicherheitsbehörden gerade jetzt als besonders undurchsichtige, gefährliche Gruppe. Natürlich checke man, so ein Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), schon vor der Entlassung „wie diese Leute drauf sind“. Bereuen sie ihre Taten oder haben sie sich in der Zelle weiter radikalisiert?
Meist geben sich die früheren IS-Sympathisanten friedlich. Sie wissen, dass sie, nach der Entlassung, erst einmal unter Beobachtung stehen.
Allein in Nordrhein-Westfalen sitzen derzeit noch etwa 30 IS-Verbrecher in Haft. Aber ihre Zeit im Gefängnis läuft ab. So wie bei den elf ehemaligen Terrorhelfern, die in den vergangenen Monaten freikamen. Jeder Einzelne von ihnen wird von mehreren Verfassungsschützern observiert. Der BfV-Mann lakonisch: „Wir können ihnen trotzdem nicht in den Kopf schauen.“
Wann aber wird bei wem aus dem trüben Potenzial grausame Wirklichkeit?
Dabei ist es genau das, was nötig wäre. Die Sicherheitsbehörden stufen etwa 200 Menschen in Deutschland als islamistische „Gefährder“ ein. Personen also, denen ein religiös motiviertes Attentat zuzutrauen ist. Rund um die Uhr bewachen lässt sich diese Gruppe nicht. Und selbst wenn: Gewalttäter, das lehrt gerade das Verbrechen von Mannheim, können bis zu ihrem kriminellen Coming-out vollkommen unauffällig leben. Die Verfassungsschützer rechnen mit etwa 27 000 in Deutschland lebenden Muslimen, die ein „islamistisches Potenzial“ aufweisen. Wann aber wird bei wem aus dem trüben Potenzial grausame Wirklichkeit? Wer nimmt, um seine Ziele zu erreichen, ein Messer in die Hand?
Die Nervosität in den Sicherheitsbehörden ist nachvollziehbar. In wenigen Tagen beginnt in Deutschland die Fußball-Europameisterschaft. Dann säumen Menschenmassen die französischen Landstraßen, um den Matadoren der Tour de France zuzujubeln. Bald darauf lädt Paris Millionen Menschen zu den Olympischen Spielen. Die sportlichen Großereignisse könnten Fanatiker als Bühne für ihre Verbrechen nutzen. Und gerade jetzt demonstrierte der Attentäter von Mannheim, wie terroristisches Kalkül funktioniert.
Das sei ein „Albtraum“, stöhnt Sebastian Fiedler, Innenexperte der SPD im Bundestag und ehemaliger Vorsitzender des Bundes der Kriminalbeamten. „Täter, die sich allein radikalisieren und zur Tat schreiten, sind am schwersten zu entdecken.“
Union fordert nach Mannheim harte gesetzliche Maßnahmen
Schwer fällt es offenbar auch, nach einem Verbrechen wie dem in Mannheim angemessen zu reagieren. Heroische, aber unverbindliche Hinweise auf ein Gemeinwesen, das sich jetzt verteidigen müsse, werden jedenfalls nicht ausreichen. Auch das Versprechen des Bundesinnenministeriums, die Sicherheitsbehörden würden ihre Aufmerksamkeit nun besonders auf Islamisten richten, wirkt ein wenig hilflos.
Die Union fordert nach Mannheim harte gesetzliche Maßnahmen. Gefährder und Straftäter, die in Deutschland ihre Haftstrafe verbüßt hätten, so erklärte der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, müssten abgeschoben werden. Auch in Länder wie Afghanistan oder Syrien.
Die Idee ist nicht neu, gilt aber in Berlin als heikel. Soll ein Rechtsstaat tatsächlich freigelassene Straftäter in Länder verbannen, wo keine Menschenrechte gelten?
Die Parteien der Regierungskoalition denken deshalb statt über härtere Abschieberegeln lieber über schärfere Waffengesetze nach. Im Januar 2023 hatte Innenministerin Nancy Faeser zwar mehrere Änderungen der einschlägigen Bestimmungen (insbesondere für Handfeuerwaffen) vorgeschlagen. Die FDP jedoch blockiert die Novelle, fordert stattdessen die strikte Anwendung der bestehenden Paragrafen. Irene Mihalic, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen und gelernte Polizistin, erklärte dem FOCUS, die Regierung müsse sich nun, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, „das Waffenrecht noch mal genauer anschauen“.
Wenn Messer zur Kultur gehören
Hört sich nicht so an, als ob sich im Geschäft von Pavel Sverdlov auf absehbare Zeit etwas ändert. Seit 15 Jahren nun führt er einen Waffenladen in der Berliner Frankfurter Allee. Sverdlov verkauft vor allem „freie“ Waffen – die man mit dem Erreichen der Volljährigkeit erwerben kann. Das sind Schreckschusspistolen, Armbrüste und eben auch Messer in diversen Größen und Formen. Sie liegen zu Hunderten in den Vitrinen: mächtige Kampfmesser neben beinahe zierlichen Klappmessern.
Wer Messer kaufe? Sammler und jene, die Messer als Gebrauchsgegenstände nutzen – für die Jagd etwa. Da gebe es, sagt der Waffenhändler, allerdings noch eine dritte Gruppe. Er nennt sie „junge Männer orientalischer Herkunft“. Die wollen ein Messer bei sich führen, weil das zu „ihrer Kultur“ gehöre. Manche dieser Männer verlangen nach einer Waffe, die sie zwar kaufen, aber nicht führen dürfen. Sverdlov belehrt sie und verkauft ihnen die gewünschte Waffe. Ob er sich schon mal gegen den Verkauf entschieden habe? Selten. Das sei eine Frage der Eigenverantwortung. „Nicht ich entscheide, ob jemand ein Messer führen darf oder nicht. Sondern das Gesetz.“
Von THORE BARFUSS /CHRISTOPH ELFLEIN / FELIX HECK /JAN-PHILIPP HEIN /ANTJE HILDEBRANDT /JOSEF HUFELSCHULTE / LUKAS KOPEREK /MARKUS KRISCHER /JANNA CLAUDIA WOLF