ING-Chefökonom ist kein Freund der Schuldenbremse: „Lieber Schulden als ausgehöhlte Wirtschaft“
17 Milliarden Euro muss die Bundesregierung einsparen. Die Ampel-Koalition streitet darüber, ob dies mit der Schuldenbremse gelingt – oder ausschließlich ohne. Der Chefökonom der ING-Bank scheut keine Schulden.
Die Bundesregierung debattiert über den Haushalt für das Jahr 2024. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Umwidmung von Corona-Geldern in den Klimafonds als verfassungswidrig eingestuft hat, muss die Ampel-Koalition zusätzliche 17 Milliarden Euro einsparen. Zumindest dann, wenn die Schuldenbremse eingehalten wird. An ihr festhalten möchte Finanzminister Christian Lindner (FDP). Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wollen den Schuldenstopper erneut aussetzen. Stattdessen sollen neue Kredite aufgenommen werden. Aufseiten der Opposition regt sich heftiger Widerstand dagegen. Dort ist die Sorge groß, dass der Staat unter seinem eigenen Schuldenberg erstickt.
Zur Erinnerung: Die Schuldenbremse wurde 2009 vom damaligen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) ins Leben gerufen. In einer Zeit, als die Bankenkrise die Wirtschaft erschütterte und die Eurokrise gerade an Fahrt aufnahm. Die Politiker sollten damit an die Kette gelegt werden, damit diese keine schuldenfinanzierten Wahlgeschenke verteilen. 14 Jahre später ist die Situation eine andere. Es gibt keinen kurzfristigen Schock, wie zuletzt durch die Corona-Pandemie, sondern eine Reihe von strukturellen Herausforderungen.
Brzeski: Sparen zum Selbstzweck funktioniert nicht
Carsten Brzeski ist Chefökonom der ING-Bank und hält vor Augen, dass diese Herausforderungen öffentliche Güter betreffen. Er nennt die Modernisierung der Bahn als Beispiel. „Das sind Aufgaben, die vom Privatsektor nicht übernommen werden können“, verdeutlicht Brzeski, „dafür braucht es einen starken Staat“. Und er warnt ausdrücklich: „Die Staaten in Südeuropa haben während der Eurokrise gezeigt, dass Sparen zum Selbstzweck nicht funktioniert.“ Griechenland diene als mahnendes Beispiel.
So weit die Meinungen hinsichtlich der Schuldenstopps auseinandergehen, so einig sind sich im Kern alle Experten: Es muss investiert werden. Die Abschaffung der Bremse „ist die einfache Lösung“, sagt Brzeski, „sparen wäre die schmerzhafte“. Wenn sich Olaf Scholz und Robert Habeck durchsetzen, wird die deutsche Staatsverschuldung steigen. Aktuell beträgt diese knapp 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, damit befindet sich die Bundesrepublik im europäischen Vergleich im unteren Mittelfeld. Der EU-Durchschnitt liegt bei 83 Prozent, in den USA bei rund 123 Prozent.
Keine Bremse, höhere Preise?
Dass das neuerliche Aussetzen der Schuldenbremse die Inflation anheizt, befürchtet Christian Lindner. Dem stimmt Brzeski zu, „sofern es zu einer Überhitzung der Konjunktur kommen würde“. In anderen Medien äußern sich Experten dahingehend, dass eine Abkehr von der Schuldenbremse zu Verlust von Wohlstand und Arbeitsplätzen führe. Diese Auffassung teilt Brzeski nicht. Wichtig sei, dass aufgenommenes Geld gezielt dort investiert wird, wo es der Wirtschaft im Moment fehlt. „Dann hat es keinen Effekt auf die Inflation“, sagt der Ökonom.
Dass die Regierung die Schulden der nachfolgenden Generation überlassen würde, ist unbestritten. „Aber“, sagt Brzeski, „wenn ich die Auswahl habe, ob ich lieber Schulden übernehme oder eine ausgehöhlte Wirtschaft, ist meine Antwort klar“. Der Volkswirt glaubt, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland massive Investitionen benötigt: „Andernfalls wird auch die Bereitschaft ausländischer Unternehmen schwinden, hier zu investieren.“
Auch dies wird die Bundesregierung abwägen. Am Mittwoch findet die nächste Kabinettssitzung statt. Wenn der Haushalt für 2024 noch vor dem Jahreswechsel beschlossen werden soll, muss es bis dahin zu einiger Einigung gekommen sein, damit das entsprechende Gesetz den Bundestag durchlaufen kann. Ansonsten droht der Ampel eine weitere politische Hängepartie.