Deutsche essen 2,5 Milliarden Garnelen pro Jahr – die Zuchtmethoden sind brutal

Die Beschreibungen klingen schockierend: Züchter von Garnelenfarmen schneiden Muttertieren ihre Stielaugen ab, um so die Fruchtbarkeit für die Eiablage zu erhöhen. Zudem soll es immer wieder Probleme beim ausreichenden Betäuben von Garnelen durch Eiswasser geben, bevor sie geschlachtet werden. Und dies, obwohl es schonendere und sicherere Methoden gebe. 

Dies ist das Ergebnis einer Recherche des "International Council for Animal Welfare" (ICAW) samt Supermarkt-Ranking, die FOCUS online vorab exklusiv vorlag. Untersucht wurde, wie die Tiere vor der Schlachtung betäubt werden, wie effektiv die Methode ist und ob weiblichen Zuchttieren bei lebendigem Leib Augenstiele abgeschnitten werden. Außerdem sollten die Positionen der deutschen Supermärkte sowie Reaktionen von Kunden eruiert werden.

In Eiswasser betäubt und Augen abgeschnitten - Garnelenzucht in der Kritik

"Viele deutsche Supermärkte verkaufen Garnelen aus Indien und Indonesien. Stichprobenartige Kontrollen auf kommerziellen Garnelenfarmen haben Hinweisspuren zu Produzenten ergeben, die diese Techniken anwenden", erklärte dazu Jonas Becker, zuständig beim ICAW in Sachen Tierschutzpolitik für wirbellose Tiere. Damit sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass derartig herangezüchtete Tiere auf deutschen Tellern landeten.

Videoaufnahmen aus Indien legen nahe, dass die so genannte Augenablation dort praktiziert werde. Aufnahmen aus Indonesien und Guatemala zeigen Tierschutzprobleme bei der weitverbreiteten Schlachtung in Eiswasser - "mit dem Resultat, dass Garnelen vor der Schlachtung häufig gar nicht oder nur unzureichend betäubt werden und teils jämmerlich ersticken".

Über Produktfotos und Tracking-Informationen habe sich eine "Hinweisspur" von einer Aldi-Eigenmarken-Charge zur indischen Zuchtanlage mit Augenstielablation ergeben, so Becker.

Briten haben die Nase vorn: Augenstielablation ab 2027 verboten

Laut einer Schätzung des Alfred-Wegener-Instituts verzehren Deutsche pro Jahr rund 50.000 Tonnen Garnelen. Bei einer handelsüblichen Stückgröße von rund 20 Gramm pro Tier entspräche dies etwa 2,5 Milliarden Tieren pro Jahr. Zum Vergleich: 2024 wurden in Deutschland rund 654 Millionen Hühner geschlachtet. Garnelen gelten als das meistgezüchtete Tier der Welt.

Während in Großbritannien laut ICAW bereits sieben der zehn größten Supermarktketten die sogenannte Augenstielablation und die Eiswasserbetäubung verboten haben, hätten sich in Deutschland mit Aldi Nord und Süd sowie inzwischen einem weiteren Markt allerdings bislang nur wenige Supermarktketten überhaupt zu dem Thema positioniert, ergänzt Becker. 

Im jüngsten Update der "Richtlinie Fisch & Meeresfrüchte" erkenne Aldi zwar die elektrische Betäubung als beste Methode an. "Es wird jedoch kein verbindliches Umsetzungsdatum dafür festgelegt." Viele Supermärkte in Europa hätten laut Recherche von ICAW hingegen einem Verbot "bis spätestens 2027" zugestimmt.

Garnelen bei einer Zuchtfarm in Indonesien werden verarbeitet, obwohl sie unzureichend betäubt wurden.
Garnelen bei einer Zuchtfarm in Indonesien werden verarbeitet, obwohl sie unzureichend betäubt wurden. ICAW

Konkretes Datum für Stopp von Eiswasserbetäubung nennt Aldi nicht

Laut Aldi Nord sei die Augenstielablation eine Praxis, bei der den Muttertieren während der Zucht die Augenstiele entfernt werden. "Diese Maßnahme betrifft ausschließlich die Zuchtpopulation und nicht die Tiere, welche direkt bei Aldi verkauft werden", teilte ein Sprecher von Aldi Nord FOCUS online auf Anfrage mit.

Um das Tierwohl zu fördern, habe Aldi Nord sich zu einer "phasenweisen Abschaffung" der Augenstielablation bis 2029 für Weißfußgarnelen und 2031 für Riesengarnelen verpflichtet. "Dies steht im Einklang mit den Anforderungen der führenden Aquakulturzertifizierungen, insbesondere dem Aquaculture Stewardship Council (ASC). Für unsere Bio-Shrimps gilt das Ablationsverbot bereits heute."

Gefragt nach der Kritik an der Betäubung der Tiere vor der Schlachtung durch Eisbäder sagt der Sprecher: "Korrekt angewendet, wird diese Methode vom ASC anerkannt. Darüber hinaus pilotiert Aldi Nord eine Betäubung mittels Elektroschock entlang ausgewählter Garnelen-Lieferketten, um den aktuellen Forschungsstand zu unterstützen." Ein konkretes Datum für ein Verbot der Eiswasserbetäubung nannte Aldi nicht.

Ähnlich äußerte sich auch Aldi Süd und ergänzte, sich zudem für die Schaffung "sicherer und sozial verantwortlicher Arbeitsbedingungen" einzusetzen.

Das reicht dem ICAW nicht. "Wir fordern neben einem Verbot des Augen-Abschneidens auch eine Garantie für effektive elektrische Betäubung bis 2030 - von Aldi und allen anderen deutschen Supermärkten", so Jonas Becker. Es sei "inakzeptabel, weiter abzuwarten und die Tiere langsam ersticken zu lassen." Der aktuelle Stand der Wissenschaft zeige, "dass elektrische Betäubung Garnelen wesentlich schneller und sicherer bewusstlos macht als die Eiswasser-Methode", die Supermärkte in Großbritannien hätten dies längst erkannt.

Es gibt längst nachhaltige Alternativen, Fruchtbarkeit von Zuchtgarnelen zu steigern

Gab es lange Zeit zur Augenablation keine brauchbaren Alternativen, hat sich dies inzwischen auch aus Sicht der Forschung klar geändert. "Die Ablation gilt als sichere und schnelle Methode. Aber es gibt seit mehreren Jahren bereits andere, nicht invasive Möglichkeiten, um die Fruchtbarkeit weiblicher Zuchtgarnelen, die in Zuchtgewässern niedriger ist als in freier Wildbahn, zu erhöhen", bestätigte Matt Slater, Leiter der Forschungsabteilung "Nachhaltige marine Bioökonomie" beim Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, gegenüber FOCUS online. Die Alternativen beträfen vor allem die Verbesserung von Haltungsparametern wie Bestandsdichte, Futter und Lichtzufuhr. 

Simao Zacarias, der mit einem Team an der britischen University of Stirling zur Garnelenzucht forscht, kam nach zwei Studien 2019 und 2021 zu dem Schluss, dass eine Abkehr von der Augenablation sogar kostenneutral umgesetzt werden könne. Ablation schwäche die Brut und mache sie anfälliger für Krankheiten, während eine Verbesserung der Haltungsmethoden "robustere Postlarven und Jungtiere produziert, die für die aufnehmenden Brutstätten ein wertvolleres und besser vermarktbares Produkt darstellen, eine bessere Überlebensrate haben und finanziell vorteilhafter sind".

Forscher warnt vor sozialen Auswirkungen von Eisbetäubungsverbot

Was die Betäubung der Tiere im Schlachtprozess mit Eiswasser betrifft, scheinen Forscher weitgehend einig, dass die Elektroschock-Methode schneller wirkt. Inwieweit wirbellose Tiere wie Garnelen jedoch Schmerz empfinden, gilt als wissenschaftlich noch nicht ausreichend erforscht.

"Aus zahlreichen Studien wissen wir heute, dass Garnelen und andere Krebstiere gezielte Schmerzreaktionen zeigen", erklärte Kathrin Herrmann, europäische Fachtierärztin für Tierschutz und Wissenschaftlerin an der Johns Hopkins University. 

Herrmann hat das Videomaterial der Garnelenfarmen von ICAW gesichtet und kommt zu dem Schluss, dass bei der Eiswasserbetäubung viele Tiere bei Bewusstsein blieben und erheblichen Stress sowie Schmerzen erlebten. "Ein tierschutzrelevantes Problem, das mit einem langsamen, leidvollen Tod vergleichbar ist." Deshalb sei die elektrische Betäubung die "tierschutzgerechte Lösung" – vorausgesetzt, ihr folge eine "unverzügliche Tötung, solange die Bewusstlosigkeit anhält".

Matt Slater gibt zu bedenken, dass das Handling von Garnelen, die elektrisch betäubt würden, bis zur Schlachtung "ebenfalls nicht unproblematisch sei und die Tiere ebenfalls Stress ausgesetzt würden. Der Forscher warnt vor voreiligen Verboten, die "erhebliche soziale Auswirkungen" auf Jobs einer Branche haben könnten, die jährlich ein Volumen von rund 45 Milliarden Dollar umfasse und vorwiegend Produzenten im globalen Süden beträfe.

Britisches Tierschutzgesetz erkennt Schmerzempfinden von wirbellosen Tieren an

Die Tierschützer von ICAW stützen ihre Forderung nach einem schnellen Verbot der Eiswasserbetäubung auf die Gesetzgebung in Großbritannien sowie auf die Reaktionen der dortigen Supermarktketten, von denen die meisten ein Verbot bis 2027 zugesichert haben oder es bereits in ihren Lieferketten umgesetzt haben.

Zur unter Wissenschaftlern nicht unumstrittenen Frage der Empfindungsfähigkeit von Krebstieren führen sie eine Auswertung verschiedener Studien im Auftrag der "London School of Economics" an. Die Auswertung, die mehr als 300 Forschungsarbeiten einbezieht, kam 2021 zu dem Schluss, "alle Kopffüßer und Zehnfußkrebse im Sinne des britischen Tierschutzgesetzes als empfindungsfähige Tiere zu betrachten". 

Das britische Tierschutzgesetz von 2022 hat rechtlich anerkannt, dass diese Tiere in der Lage sind, Schmerz, Leid oder Schaden zu empfinden. Experten stuften die Beweise für die Empfindungsfähigkeit von Garnelen zwar als "bedeutend", zugleich aber als "begrenzt" ein und fordern, dass nun weitere Forschungen erforderlich sind.