Ex-Schiedsrichter Felix Brych gesteht: "Das Ende war eine Befreiung"

Ausgepowert und entspannt kommt Felix Brych im Bergson an. Hier in diesem imposanten ehemaligen Heizkraftwerk hat Burda zum Health Lab geladen. Gleich werden wir über die sagenhafte Karriere des deutschen Rekordschiedsrichters sprechen. Und über die Frage, wie er über all die Jahre das Vertrauen in sich und seinen Körper erhielt. Niemand hat mehr Bundesligapartien gepfiffen. Zwei Mal wurde Brych auch zum Welt-Schiedsrichter gewählt. Bevor es gleich auf die Bühne geht, trinkt Brych einen doppelten Espresso. Und noch einen. Und noch einen. "Ich muss kurz frisch werden", sagt er. "Das Training war hart."

FOCUS online: Sie kommen vom Training. Ich dachte, Sie haben Ihre aktive Karriere beendet. Was machen Sie da in der Halle?

Felix Brych: Als Schiedsrichter geht es mir wie anderen Spitzensportlern: Ich muss den Körper zurücktrainieren. Ich habe ein Sportlerherz ausgebildet, das Schaden nimmt, wenn ich die Belastung schnell reduziere. Außerdem bin ich noch in der Reha nach meinem Kreuzbrandriss im November 2023. Die Muskulatur am Knie muss weiter gestärkt werden, damit ich sportlich aktiv bleiben kann.

Wie bitte? Die Reha läuft noch und zwischendurch haben Sie eine der besten Saisons ihres Lebens gepfiffen. Nach ihrem Comeback im Herbst 2024 wurden Sie gerade zum siebten Mal zu Deutschlands Schiedsrichter des Jahres gewählt.

Brych: Dieses Comeback mit 49 war die wohl größte Energieleistung meiner Karriere. Mir hat am Anfang meiner Laufbahn niemand gesagt, wie wichtig der Körper in diesem Beruf sein wird. Aber er ist entscheidend. Wenn Florian Wirtz oder Jamal Musiala abziehen, muss der Schiri hinterher. Das ist extrem – gerade wenn es ein 50-Jähriger mit pfeilschnellen 20-Jährigen aufnimmt. Und ich muss 95 Minuten durchhalten, während die Mannschaften inzwischen fünf Mal wechseln können. Wer nicht topfit ist, ist nicht in der Lage, die heiße Schlussphase eines Spiels hellwach zu verfolgen. Die Frische am Ende des Spiels kommt über den Körper und ist nur zu erreichen, wenn du richtig trainierst und dich richtig ernährst. Das unterscheidet die Besten von den Guten.

Was haben Sie für Ihren Körper getan, um so lange auf diesem Niveau pfeifen zu können?

Brych: Ich habe mich über die Jahre immer professioneller auf die Spiele vorbereitet. Mit 20 oder Anfang 30 konnte ich ja so viel trainieren, wie ich wollte. Gegen Ende der Karriere musste ich das körperliche Training dosieren und vieles durch mentale Stärke, Antizipation und Erfahrung wettmachen. Die Vorbereitung auf ein großes Spiel ging über Tage und dominierte meine Woche komplett. Wenn ich am Donnerstagabend ins Bett ging, hatte ich schon das Spiel vom Samstag im Kopf. Die Spielsysteme, die Spielercharaktere, Tausende von erlernten und erfahrenen Informationen. Dazu immer das Reinhorchen in den Körper. Hohe Schlafqualität und eine optimale Ernährung waren für mich enorm wichtig. Akupunktur half mir, meine Organe leistungsfähig zu halten.

Felix Brych
Felix Brych gab Einblicke in das Innenleben eines zweifachen Welt-Schiedsrichters Hubert Burda Media

Wir sprechen hier vor dem Publikum des Burda Health Lab. Insofern interessiert uns natürlich näher, wie für Sie diese gesunde Ernährung aussah.

Brych: Meine Ärzte haben Stoffwechselanalysen gemacht. Was schnell klar war: Schluss mit Pasta! Das bekommt mir nicht. Nudeln wurden uns Sportlern lange Zeit als Energielieferant verkauft. Das ist Quatsch. Jeder Mensch ist anders. Überhaupt habe ich die Kohlenhydrate stark reduziert. Für mich waren Fisch, Reis und Gemüse wichtig. Alles frisch und in den richtigen Mengen und Intervallen. Ergänzungsmittel nahm ich nur sehr wenige, vor allem Magnesium, dazu kam die Vermeidung von allem, was den Organismus belastet.  Abends im Biergarten mit Freunden sitzen und sich eine Mass gönnen – das war nicht drin, auch Tage vor dem Spiel nicht.

Das klingt alles ziemlich hart, auch zu sich selbst. Nicht von ungefähr waren Sie in Ihrer Branche als der Eisvogel bekannt. Als sehr präzise, unglaublich schnell. Aber auch sehr unnahbar.

Brych: Ich wollte ja nicht sympathisch sein, ich wollte als Schiedsrichter gut sein. Ich habe mir vorgenommen, möglichst gar keine Emotionen nach außen zu lassen. Für einen Profi-Schiedsrichter ist es wichtig, Distanz walten zu lassen. Damit habe ich mich wohl gefühlt. Also hat mir der Eisvogel geholfen.

Jetzt darf er davonfliegen.

Brych: Ja, der Druck fällt ab und ich kann mich offener präsentieren.

Lassen Sie uns zwei Monate zurückgehen. Es ist der 17. Mai, 17:23 Uhr. Wir sind im Stadion des FC Augsburg. Union Berlin trifft in der 95. Minute zum Sieg. Sie pfeifen danach gar nicht mehr an. Sie pfeifen ab. Für immer. Es ist das Ende Ihrer Karriere nach 359 Bundesligaspielen. Ein Rekord! Was war das für ein Moment für Sie?

Brych: Es war wie eine Befreiung. Das muss ich ehrlich sagen. Eine Befreiung nach 21 Jahren Profisport. Hinter mir lag eine tolle Zeit, die jetzt durch einen bewussten Schritt endete. Ich musste immer wieder die Grenzen überschreiten, die Regeneration war immer mühsamer geworden. Jetzt konnte ich loslassen. Die Familie und meine Freunde waren im Stadion und am Ende auch auf dem Platz. Das war emotional. Wir haben gemeinsam gefeiert.

Der Schiedsrichter-Beruf bringt enorme Stress-Spitzen mit sich. Den Druck von 80.000 Menschen bei einer Entscheidung zu spüren, das kann auch krank machen, wie wir von einigen Ihrer Kollegen wissen. Wie haben Sie es geschafft, gesund zu bleiben?

Brych: Ich wusste, wenn ich gut pfeife, dann kriege ich die Energie, die ich reingebe, wieder zurück. Glücklicherweise kann ich mit Druck als Typ ganz gut umgehen. Ich wachse an ihm und habe ihn als Privileg empfunden. Wenn ich zum Champions-League-Halbfinale gefahren bin, wusste ich: Es ist ein Spiel, das 500 Millionen Menschen gucken. Ich darf dabei sein, wenn die Megastars auflaufen. Ich wollte es so, und je größer der Druck war, desto akribischer war meine Vorbereitung. Die Tage solch großer Spiele waren natürlich extrem, aber ich spürte schon morgens vor dem Frühstück, wie sich die Anspannung und das Bauchgefühl aufbauten, die ich für ein gutes Spiel brauchte. Wenn ich bestens vorbereitet war, konnte ich diesem Bauchgefühl trauen wie ein Formel-1-Fahrer seinem Gefühl für Auto und Strecke.

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Felix Brych im Gespräch mit FOCUS-online-Chefredakteur Florian Festl Hubert Burda Media

Das Spiel ist so schnell geworden, dass selbst Schiedsrichter, die gut stehen, nicht alles sehen können. Und nur auf den Videobeweis verlassen geht ja auch nicht. Wie blickt eigentlich ein guter Schiri auf Feld und Spieler?

Brych: Die Situationen sind kaum noch aufzulösen. Sie liegen im Grenzbereich dessen, was das Auge noch erfassen kann. Die Abseitsentscheidungen etwa werden immer knapper. Die kleinen Fouls werden immer geschickter ausgeübt. Und das Spiel kommt mit immer weniger Platz aus. Man kann längst nicht mehr alle Dinge sehen. Man muss sie vielmehr intuitiv erfassen. Ich nehme das ganze Bild auf, nicht nur die unmittelbar involvierten Spieler. Aus der Reaktion der Umstehenden habe ich häufig gelesen, ob es ein Foul war oder nicht. Wenn die zuerst zu mir blickten, konnte es nicht so schlimm gewesen sein. Waren die Sorgen um den Mitspieler oder die Reaktion in Richtung des Gegners größer, dann sah es anders aus.

Jetzt können Sie es ja sagen: Wer produziert die besten Schwalben im Weltfußball?

Brych: Nun ja, für die Schwalben-Könige ist es schwer geworden durch den Video-Referee. Aber in der Zeit davor kannte ich natürlich meine Pappenheimer. Nahezu legendär war Neymar, und das gewiss nicht zu Unrecht. Je schmerzverzerrter sein Gesicht war, desto gelassener ließ ich das Spiel laufen. Ein Spieler, der starke Schmerzen hat, bleibt sofort liegen und rollt nicht ewig über das Feld.

Ein Schiedsrichter fällt rund 220 Entscheidungen pro Spiel. Ich habe das hochgerechnet: Sie haben rund 100.000 Entscheidungen in wichtigen Spielen getroffen. Sehr viele richtige, aber auch einige falsche. Berühmt geworden ist das von Ihnen gegebene Phantomtor von Stefan Kießling. Wie haben Sie diesen Fehler verarbeitet?

Brych: Es war verrückt. Ich habe gesehen, wie der Ball von außen ins Tor der Hoffenheimer flog. Aber ich konnte es in diesem Moment nicht verarbeiten. Hätte ich nachgedacht, wäre ich drauf gekommen, dass es ein Loch im Netz geben musste. Habe ich aber nicht, weil ich an diesem Tag das nötige Gefühl für mich und meinen Körper nicht hatte. Der Grund wurde mir im Nachhinein klar: Ich hatte drei Tage davor ein hochbrisantes Spiel der Kroaten gegen die Serben toll gepfiffen und war zu selbstsicher. Drei Tage nach dem Phantomtor musste ich zu einem Champions-League-Spiel in Mailand. Ich musste wirklich allen noch vorhandenen Mut zusammennehmen, um da raus zu gehen. Mein Kopf sagte mir: Ich habe vorher schon zehn Jahre gut gepfiffen. Warum soll ein Moment alles kaputt machen? Damit es aber auch Deine Psyche so sieht, musst Du Dich voll damit konfrontieren. Ich habe mir damals einen Mentalcoach geholt, mit dem ich bis zum Ende meiner Karriere gearbeitet habe.

Schlimmer wurde es für Sie nach dem Phantomtor eigentlich nur noch bei der WM 2018. Deutschland war früh ausgeschieden, der Weg für Sie ins Finale war frei. Dann ein Patzer in der Vorrunde. Sie haben einen Elfer für die Serben nicht gegeben und wurden extrem angefeindet. Die WM war damit für Sie vorbei.

Brych: Es war wieder das gleiche Problem: Ich hatte einen Lauf, pfiff auf Topniveau. Gerade in guten Phasen machst du die größten Fehler, weil Vorsicht und Genauigkeit schwinden. Ich kam nach dieser WM nach Hause wie ein geprügelter Hund. Das war nicht lustig. Wir brauchten auch Polizeischutz. Ohne die Unterstützung meiner Frau hätte ich damals vielleicht sogar aufgehört. Es hat ein Jahr gedauert, bis ich diese WM überwunden hatte – und es folgten noch so viele gute Jahre. Es war mir gelungen, in den Tunnel der Fokussierung zurückzufinden, den ein Sportler braucht. Jetzt aber bin ich unendlich froh, am Ende dieses Tunnels angelangt zu sein. Dieser Ausblick gefällt mir. Es ist hell da und fröhlich. Alles ein bisschen lockerer als davor.