Friedrich Merz, der vergleichsweise milde Wilde

Friedrich Merz hat den Kanzler ins Taumeln gebracht und ihn im Bundestag hart attackiert. Und doch zieht er nicht blank, sondern bietet weiter Zusammenarbeit an. Warum versetzt Merz Scholz nicht den entscheidenden Stoß?

Der Machtkampf zwischen Maximilien de Robespierre und Joseph Fouché, so beschreibt es Stefan Zweig meisterhaft in seiner Biografie über Napoleons Polizeiminister, hatte sich in den blutigen Wirren der Französischen Revolution zu einer Frage von Leben und Tod aufgeschaukelt. Fouché oder Robespierre: Einem von beiden würde das Beil der Guillotine den Nackenwirbel durchschlagen.

Daran besteht kein Zweifel, als Robespierre vor dem Konvent im Buchstabensinne um sein Leben redet. Der fulminante Redner vermeidet in der von Pathos und Energie aufgeladenen dreistündigen Rede, seinen Todfeind beim Namen zu nennen, bis einer aus dem Auditorium ihm entgegenruft: "Et Fouché?" – "Und Fouché?"

Der Verräter der Revolution, jedenfalls aus der Sicht der Radikalen, ist damit benannt. Robespierre müsste nur noch zustoßen. Stattdessen spricht er an diesem Tag der Entscheidung einen Satz, über den die Historiker sich seither wieder und wieder fassungslos gebeugt haben: "Ich will mich jetzt nicht mit ihm beschäftigen. Ich höre nur auf die Stimme meiner Pflicht", sagt Robespierre – um sich am Tag darauf im Karren auf dem Weg zum Schafott wiederzufinden.

Merz ist nicht Robespierre, natürlich nicht

An diese packende Passage aus Zweigs Buch über den Mann, vor dem sich sogar Napoleon fürchtete, muss ich dieser Tage denken. Es herrscht weder Terreur noch ein größenwahnsinniger Korse in Deutschland. Es geht nicht um Leben und Tod, und Friedrich Merz ist so wenig Robespierre wie Olaf Scholz etwas mit Joseph Fouché gemein hat.

Aber Macht funktioniert immer gleich in ihren archaischen Mustern, in der Demokratie ebenso wie beim Fürsten von Machiavelli oder in der Französischen Revolution. Und gefragt habe ich mich schon, warum aus dem wilden Friedrich, der mit seiner Klage vor dem Bundesverfassungsgericht diese Bundesregierung und damit diesen Bundeskanzler ins tagelange Taumeln versetzt, plötzlich Friedrich der Milde geworden ist. Jawohl, er rempelt und raubauzt, der Kanzler könne es nicht, und nennt ihn einen Klempner der Macht. Aber er zerschneidet nicht das Tuch. Bietet weiter Zusammenarbeit an.

Die Stimme der Pflicht?

Hier als Angebot zwei mögliche Erklärungen für Merz' relative Zurückhaltung – ohne Anspruch auf Gültigkeit und Vollständigkeit. Womöglich sogar mit einer Portion an immanenter Widersprüchlichkeit.

Die erste Erklärung hat mit der Stimme der Pflicht zu tun, die möglicherweise auch Merz in sich hört. Leute, die ihn gut kennen, beschreiben ihn als einen Konservativen im klassischen Sinne. Daher wird Merz nicht nur an seine Satisfaktion denken, an die Lust des Machtmenschen, die jenem des Jägers in seinem Trieb nicht unähnlich ist. Bei Merz gibt es am Ende auch eine Ehrfurcht, oder sagen wir: Respekt vor der Autorität der Institutionen und damit auch vor dem Kanzleramt. Und Respekt vor der eigenen Verantwortung als Oppositionsführer in einem Moment, in dem nicht nur der Kanzler taumelt, sondern das ganze Land.

Für das zweite Erklärungsmuster muss noch einmal Stefan Zweig zur Hand genommen werden, der klarsichtig schreibt: "Eine Revolution (…) gehört niemals dem Ersten, der sie beginnt, sondern immer dem Letzten, der sie endet und wie eine Beute an sich reißt."

In dieser Logik lässt sich ein Markus Söder zu Neuwahlforderungen hinreißen, die sich Merz verkneift. Wenn er in den Jahrzehnten seines Comebacks etwas gelernt hat, dann das Warten. Es geht ja nicht nur um den Kampf gegen den Mann im Kanzleramt. Sondern auch um den Kampf mit den Widersachern in den eigenen Reihen.

Manchmal übermannen ihn noch die Reflexe

Gelegentlich überkommen Merz da immer noch die Reflexe. Wie in diesem Frühsommer, als er sich von Hendrik Wüsts Bewerbungsrede für die CDU-Kanzlerkandidatur in der "FAZ" aus der Reserve locken ließ und unsouverän gegen den jungen Konkurrenten kofferte.

Wenn nicht alles täuscht, versucht Merz, aus diesen schweren Fehlern zu lernen und sie sich zu verkneifen. Dieser Tage erscheint eine Wüst-Biografie, in der zu lesen steht, Merz selbst habe Wüst zur Konkurrenz-Kandidatur geraten. Man weiß natürlich nicht, aus wessen Ecke den kundigen Kollegen das zugetragen wurde. Doch wenn eine solche Information von Merz selbst gekommen wäre, dann hätte er die hohe Kunst eines Helmut Kohl an den Tag gelegt: