Als Baby auf Entzug - Schon kurz nach Lucas Geburt bekommt sein Vater eine drastische Warnung

Er kann nichts dafür. Das muss sich Alexander Michels immer wieder sagen. Sein Sohn kann nichts dafür, dass er so impulsiv ist. Er kann nichts dafür, dass er vergisst, seine Tabletten zu nehmen. Er kann nichts dafür, dass er immer wieder Dinge tut, von denen er versprochen hat, sie nicht zu wiederholen. Wie kann man ein Versprechen halten, an das man sich nicht erinnern kann?

Alexander Michels weiß das. Und trotzdem fragt er sich oft: Kann Luca gerade nicht oder will er nur nicht? Ist es die Krankheit oder schiebt er diese nur vor? Es ist schwer, immer ruhig und besonnen zu bleiben. Vor allem, wenn das Gegenüber gerade komplett ausrastet. Wenn der eigene Sohn einem Schimpfworte an den Kopf wirft, von denen man sich fragt, woher er sie eigentlich kennt. Wenn Luca, der mit seinen zwölf Jahren überdurchschnittlich groß und schwer ist, vielleicht sogar nach ihm tritt. Da kann es passieren, dass auch er selbst laut wird.

Auf der Neugeborenenstation wird der Vater gewarnt

„Ich ertrage verdammt viel“, sagt Alexander Michels. „Aber ich gehe auf dem Zahnfleisch“. Einen Sohn wie Luca großzuziehen und dann auch noch allein, das ist eine Aufgabe, die ihn an seine Grenzen bringt. Schon die damalige Oberärztin auf der Neugeborenenintensivstation im Olgahospital hatte ihn gewarnt: „Das wird kein Zuckerschlecken.“ Damals nahm er sie nicht ernst. Heute weiß er: „Sie hatte recht.“

Alexander Michels heißt wie sein Sohn eigentlich anders. Der 52-jährige Stuttgarter erzählt seine Geschichte, weil er findet, dass zu wenig bekannt ist über die Folgen, die Alkoholkonsum in der Schwangerschaft haben kann und dass es zu wenig Hilfen für Eltern, aber auch betroffene Kinder gibt. Sein Sohnwurde mit FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders), also einer fetalen Alkoholspektrumsstörung geboren – und das Umfeld reagiert, das zeigen die Schilderungen des Vaters, meist überfordert und hilflos.

Alkohol ist ein Nervengift

Lucas Mutter war früher drogenabhängig. Ausgerechnet während der Schwangerschaft wurde sie rückfällig. Aber mit Alkohol habe es angefangen, erinnert sich Alexander Michels, der sich bis heute grämt, dass es ihm nicht gelungen sei, seine damalige Partnerin davon abzuhalten. Er sei „völlig unerfahren“ in Bezug auf Drogen gewesen. Dass gerade der Konsum von Alkohol für das Kind so schlimme Konsequenzen haben kann, sei ihm zudem nicht bewusst gewesen. Alkohol ist ein Nervengift – schon geringe Mengen oder gelegentlicher Konsum können das Ungeborene schwer schädigen. Seine schwangere Ex-Frau habe sich teils sogar bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, erzählt Michels frustriert. Nicht lange nach Lucas Geburt trennten sich die Eltern.

Als Luca ungefähr eineinhalb Jahre alt war, meldete sich das Jugendamt bei dem Vater. Man stellte ihn vor eine Entscheidung: Entweder er nehme ihn zu sich oder der Junge werde untergebracht. „Seitdem kümmere ich mich ausschließlich um meinen Sohn, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.“ Seine Arbeit als Ingenieur habe er aufgeben müssen.

Die Behinderung ist angeboren – und vermeidbar

Lucas Mutter starb kurz vor seinem vierten Geburtstag an einer Überdosis. Da wusste Alexander Michels schon, dass sein Sohn FASD hat. Es handelt sich um die häufigste nicht genetische geistige Behinderung, die zudem vermeidbar ist. Sie ist nicht heilbar. Meist geht FASD mit Verhaltensstörungen und Entwicklungsverzögerungen einher. Betroffene sind zum Beispiel oft distanzlos, schnell aggressiv und ungewöhnlich risikobereit. Sie haben Schwierigkeiten, aus Erfahrungen zu lernen, das Kurzzeitgedächtnis ist in der Regel bei ihnen gestört. Bei Luca sollten später noch die Diagnosen Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie eine schwere Bindungsstörung mit Enthemmung hinzukommen. Diese Diagnose geht wie FASD mit impulsivem Verhalten einher. An einer Schulphobie leide er inzwischen auch noch, sagt der Vater.

Als er klein war, sei Luca im Vergleich nicht besonders auffällig gewesen, erinnert sich Alexander Michels. Auch in der Grundschule habe es anfangs noch einigermaßen funktioniert, weil Luca in den ersten beiden Schuljahren eine „tolle Klassenlehrerin“ gehabt habe. Schon damals habe er selbst aber regelmäßig zur Unterstützung in die Schule kommen müssen. Wenn Luca das Klassenzimmer verlassen musste, habe er auf diesen aufpasst.

„Eskaliert“ sei es dann ab Klasse 3 mit dem Klassenlehrerwechsel. Mit Veränderungen kommen Kinder mit FASD generell schlecht zurecht. Lucas Verhalten könne sich explosionsartig ändern, sagt der Vater, vor allem, wenn er sich ungerecht behandelt fühle. Die neue Lehrerin sei komplett überfordert gewesen.

Luca leidet an starker Vergesslichkeit

Luca durfte damals nur wenige Schulstunden die Woche am Unterricht teilnehmen – und zwar nur, wenn eine Inklusionslehrkraft bei ihm war. Ende der dritten Klasse kam der Junge für einige Wochen in eine Tagesklinik, was aber auch „nichts gebracht“ habe. Nach der Entlassung konnte er nicht in die Grundschule zurück. Alexander Michels unterrichtete seinen Sohn vorübergehend selbst – bis zur Umschulung in ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.

Luca nimmt Medikamente, die ihn zum einen beruhigen, aber auch die Konzentration fördern sollen. Gegen seine Vergesslichkeit helfen die Pillen jedoch nicht. „Es ist für mich schwierig, damit umzugehen, dass er sich etwas nicht merken kann“, sagt Michels. Im einen Moment scheine sein Sohn zu verstehen, was er von ihm will, doch fünf Minuten später sei alles vergessen. Er müsse ihn immer wieder an die gleichen Dinge erinnern, ihm alles hinterhertragen, schildert Michels die Mühen des Alltags. Auch die Zähne würde der Zwölfjährige nicht putzen, würde er ihn nicht dazu auffordern.

Es ist ein Leben auf Abruf, weil immer ein Anruf kommen kann

Der Schulwechsel brachte nicht die positive Wende. „Vier bis fünf Schulstunden pro Woche“ habe Luca besuchen dürfen, „mehr nicht“. Erst seit diesem Schuljahr – Luca geht inzwischen in die sechste Klasse – erhalte er die reguläre Stundenzahl, weil er nun eine Integrationshilfe an der Seite hat. Das heißt aber nicht, dass der Vater sich auf den Stundenplan verlassen kann. Immer könne der Anruf kommen, dass Luca vorzeitig nach Hause muss. Er führe weiterhin ein Leben auf Abruf, könne nichts planen, stehe „ständig unter Strom“. Er hat nicht nur keine Arbeitskollegen, er hat auch keine Freunde mehr. Sein Sozialleben? Findet auf dem Smartphone statt. Tiktok ist der Raum, der allein ihm gehört. Dort postet er Beiträge, holt sich positive Bestätigung.

Manchmal gibt es aber auch gute Nachrichten von Luca. Kürzlich zum Beispiel hat die Integrationshilfe Alexander Michels von einer Situation erzählt, die nicht schön für seinen Sohn war – und doch habe der sich selbst regulieren können. Wenn ein Tag in der Schule ruhig verlief, sei das auch für ihn ein guter Tag. Oder wenn Luca friedlich zu Hause ist. „Es gibt diese Momente“, sagt der Vater, „aber sie sind verdammt selten.“

Versorgungslage bei FASD soll sich verbessern

Astrid Schmeel von der Fachdienststelle Pro Kids der Caritas rät dazu, solche Momente „zu feiern“ – und auch Luca gegenüber zu würdigen, damit er sich bestärkt fühlt. Schmeel weiß um die Not der betroffenen Familien. Oft werde die Erziehung der Eltern verantwortlich gemacht für das Verhalten der Kinder, obwohl die Behinderung ursächlich ist: „Es wird die Schuld bei den Eltern gesucht – aber bei FASD funktioniert das nicht“, sagt die Sozialarbeiterin und Systemische Therapeutin. Sie bildet sich aktuell zur FASD-Beraterin weiter.

Fetale Alkoholspektrumsstörungen seien lange unter dem Radar gewesen im Hilfesystem – nicht nur in Stuttgart. „Auch in der Suchthilfe war es kein Thema, das schockiert auch uns“, sagt Schmeel, deren Fachdienst sich um suchtbelastete Familien kümmert. Umso mehr begrüßt sie, dass in der Landeshauptstadt nun Bewegung in das Ganze gekommen ist. Pro Kids ist Teil eines neuen Netzwerks, dem auch das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) des Klinikums Stuttgart und das Gesundheitsamt angehören. Es hat das Ziel, die Versorgungslage von Menschen mit FASD in Stuttgart zu verbessern. Auch Fachkräfte in Schulen und Kindertagesstätten sollen von der Expertise des Netzwerks profitieren.

FASD ist nicht heilbar

Alexander Michels findet das dringend notwendig. Er berichtet von Fachkräften in Schule und Institutionen, die „keinen Plan“ gehabt hätten – aber auch kein wirkliches Interesse, mehr über diese Behinderung zu erfahren und wie man mit ihr umgeht. Wobei es Ausnahmen gibt. Vor allem mit dem Kinderzentrum Maulbronn verbindet er gute Erfahrungen. In der dortigen Kinder- und Jugendpsychiatrie habe man auch ihm selbst„wirklich zugehört“ .

Was wird aus seinem Sohn, wenn er groß wird? Wird er seinen Platz finden? Das fragt sich Alexander Michels oft. Schließlich wird Luca seine Behinderung sein Leben lang begleiten. Der Vater hat Angst, was die Pubertät noch bringt. Er befürchtet, dass es zu Hause noch herausfordernder wird als jetzt schon. Er weiß nicht, wie lange er noch durchhält. Andere Eltern könnten sich gegenseitig stärken. „Ich habe das nicht, ich muss komplett alles alleine auf den Schultern tragen.“

Wie kann man Betroffenen begegnen?

Tipps
Der Verein FASD Deutschland hat eine Reihe an Tipps zusammengestellt, wie man Menschen mit FASD begegnen kann. So sollte man zunächst Blickkontakt aufnehmen, auch Körperkontakt helfe, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Man solle konkret das gewünschte Verhalten benennen. Beispiel: „Sitz still“ statt „Hör auf zu zappeln.“ Von Anweisungen, die sich an eine Gruppe richten, würden sich Menschen mit FASD oft nicht angesprochen fühlen, deshalb hilft die direkte Ansprache. „Fassen Sie sich kurz“, lautet ein weiterer Tipp, zudem solle man möglichst immer dieselben Wörter verwenden, damit die Anweisungen das Langzeitgedächtnis erreichten. Man solle nur eine Anweisung auf einmal geben und diese so konkret wie möglich formulieren. „Bei größeren Aufgaben erstellen Sie eine Liste mit den einzelnen Schritten, die abgehakt werden können“, so der Verein in einer Broschüre. Man müsse zudem immer damit rechnen, dass Anweisungen vergessen werden, freundliche Erinnerungen würden hier helfen. Schließlich der Appell: „Machen Sie sich selbst klar, dass Verhaltensauffälligkeiten keine Folgen von Erziehungsfehlern sind.“

Beratung
Die FASD-Beratung bei Pro Kids ist in der Schwabstraße 57 angesiedelt und unter Telefon 07 11/23 09 12 46 erreichbar.

Von Viola Volland