Pro und Kontra: Lindner vor Milliarden-Krater – schlittert Deutschland ohne Schuldenbremse abwärts?

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60 Milliarden fehlen der Ampel – muss jetzt die Schuldenbremse weg? Eine heikle Frage. Ein Kommentar als Pro und Kontra aus der Merkur.de-Redaktion.

Das Verfassungsgerichtsurteil vom Mittwoch (15. November) kommt einer „gigantischen Klatsche“ für die Bundesregierung gleich. So formulierte es CSU-Landesgruppen-Chef Alexander Dobrindt – und stand mit dieser Einschätzung wahrlich nicht alleine. Auf die Klatsche muss aber die Weichenstellung folgen. Im Fokus steht just die Schuldenbremse, die die Ampel-Koalition mit einem Trick umgehen wollte.

Verhindert sie einen Finanzcrash, oder nimmt sie Deutschland in schwierigen Zeiten den Schwung? Die Ampel wird über die Frage streiten. „Das Karlsruher Urteil härtet die Schuldenbremse“, stellte die FDP umgehend klar. SPD und Grüne riefen ohnehin schon länger zumindest nach Ausnahmen. Wer aber hat recht? Ein Pro und Kontra aus der Merkur.de-Redaktion.

Pro und Kontra: Schuldenbremse abschaffen? Ein törichter Reflex

Chaos in der Ampel-Regierung: Das Bundesverfassungsgericht hat die Umwidmung von 60 Milliarden Euro aus der Corona-Hilfe für den Ausbau der Erneuerbaren Energien für verfassungswidrig erklärt. Zugegeben, eine gigantische Klatsche für Scholz und Co. Doch die wichtige Frage ist: was nun? Die Schuldenbremse einfach abschaffen? Die Forderung liegt auf der Hand. Doch das ist ein törichter Reflex. 

Natürlich, die Energiewende darf nicht gefährdet werden. Angesichts des Klimawandels müssen Gesellschaft und Wirtschaft auf Wind-, Sonnen- oder Wasserstoffkraft umgebaut werden – auch mit Blick auf zukünftige Generationen. Doch das Vorhaben sollte nicht ungebremst auf Pump geschehen. Denn genauso wichtig wie die Klimaneutralität ist, dass die Jüngeren in kommenden Jahrzehnten nicht auf einem riesigen Schuldenberg hocken.  

Grundsätzlich hat sich die Schuldenbremse deswegen bewährt. Mit Rücklagen und günstigen Krediten dank glänzender Bonität konnte Deutschland souverän durch Finanzkrise und Corona-Pandemie steuern. Ohne haushaltspolitische Vernunft durch die Vorgaben der Schuldenbremse hätte man spätestens mit den steigenden Zinsen ein massives Problem. 

Ohne haushaltspolitische Vernunft durch die Vorgaben der Schuldenbremse hätte man spätestens mit den steigenden Zinsen ein massives Problem. 

Ein Irrglaube ist zudem, dass es ohne ungebremste Schuldenmacherei nicht genügend Investitionsspielraum gibt. Im Gegenteil, laut Bundesrechnungshof ist in den vergangenen neun Jahren die durchschnittliche Investitionsquote im Vergleich zu früheren Jahren um fast ein Viertel gestiegen. Es mangelt nicht an veranschlagten Mitteln für investive Vorhaben, sondern vielmehr an deren zeitnaher Verwendung. Bund, Länder und auch Gemeinden hatten einige Jahre satte Überschüsse – trotz Schuldenbremse. 

Die Gegner der Schuldenbremse vergessen eines: Die Karlsruher Richter haben nicht über den Sinn der Schuldenbremse geurteilt. Abgestraft haben sie die Taschenspielertricks der Ampel-Koalition. Das wahre Problem ist die Reformmüdigkeit der Deutschen und der zwanghafte Drang der Regierung, allen unbequemen Finanzierungsfragen aus dem Weg zu gehen. 

Es gab den Alternativvorschlag, die Schuldenbremse in einer überparteilichen Initiative zeitlich befristet im Rahmen eines kreditfinanzierten Zukunftsprogramms zu lockern. Es gibt auch die Möglichkeit, zusätzliche Gelder zu erheben – sei es durch eine Vermögenssteuer oder Subventionskürzungen. Doch die zerstrittene Dreiparteienkoalition hatte dazu weder den Mut noch den Willen. 

Die Quittung hat die Regierung dafür nun bekommen. Jetzt muss sie sich aus dem Schlamassel ziehen. Doch statt schnell ein bewährtes Instrument abzuschaffen, sollte schleunigst über die Alternativen debattiert werden. Das gilt im Übrigen auch für die Opposition. Hämisches Dagegen-Sein reicht nicht. Auch Union und FDP müssen sagen, wie die Energiewende finanziert werden soll. Sonst ist das Urteil aus Karlsruhe auch eine Klatsche für sie.

Von Jens Kiffmeier

Christian Lindner und Robert Habeck (re.) im Bundestag.
Christian Lindner und Robert Habeck (re.) im Bundestag. © IMAGO/Frederic Kern

Pro und Kontra: Wer bremst kann nicht mehr lenken – Deutschlands Zukunft steht auf dem Spiel

Beim Ampel-Crash gibt es einen klaren Schuldigen. Nicht die Schuldenbremse – sondern eine Koalition, die gleichzeitig mit Schwung der Zukunft entgegenbrettern und fest die Bremse angezogen halten wollte. Das wäre nicht nur eine physikalische Unmöglichkeit. Sondern war auch ein fauler Trick, der vor allem Finanzminister Christian Lindner als selbsterklärtem Hüter der Bremse zur Gesichtswahrung dienen sollte. Schulden aber sind auch Realität, wenn man sie an den offiziellen Regeln vorbeischleust.

So weit, so gut. Aber wie nun weiter? Dass das blinde Aufhäufen von Schulden – womöglich noch für Wahlgeschenke – gerade in Zeiten des Zins-Comebacks keine gute Idee ist: Geschenkt. Aber Deutschland kann nach 16 Jahren merkel‘schem Stillstand auch nicht auf dem Seitenstreifen stehenbleiben, während andere Wirtschaftsmächte wie die USA und China ihre Wirtschaft auch mit Subventionen auf die Überholspur steuern. Ein wichtiger Fakt am Rande: Deutschlands Schuldenstandsquote – die Relation von Verschuldung zu Bruttoinlandsprodukt – ist zuletzt sogar gesunken. Im März lag sie laut Bundesbank bei 66,7 Prozent. Die USA stehen bei weit über 100 Prozent.

Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, mit stolzgeschwellter Lindner-Brust und kreischender Bremse auszutrudeln.

Eine Seite der Medaille sind die enormen Versäumnisse. Die Schulen und viele Unis sind als Basis jeder Ausbildung ebenso marode wie die Verkehrsinfrastruktur, es mangelt an Wohnraum. Die andere Seite sind die Krisen unserer Tage: Die Bundeswehr taugt selbst mit 100 Milliarden „Sondervermögen“ kaum zur Abschreckung eines Autokraten – und die Ukraine braucht auch Unterstützung aus Deutschland gegen ebenjenen. Die für das Alltagsleben der Menschen so wichtigen Kommunen haben kein Geld mehr, weder für Integration geflüchteter Menschen noch für soziale Angebote für alle Bürger. Ein Umstand, der auf Jahre hin Gräben aufreißen und Wasser auf die Mühlen der Antidemokraten leiten kann. Auch der Klimawandel ist eine Großkrise. Den Aufbau einer zukunftsfähigen Wirtschaft hat Deutschland aber ebenfalls verschlafen

Für solche Situationen sieht die Schuldenbremse die Möglichkeit von Ausnahmeregeln vor. Genau die hätte die Ampel von vorneherein anwenden müssen. Sich jetzt an die Bremse zu klammern heißt, den Anschluss an die Gegenwart zu verlieren. Das kann in eine Abwärtsspirale führen. Während sich Investitionen – in Köpfe, Demokratie und Technologie – unter dem Strich über neue Wirtschaftserfolge sogar finanziell lohnen werden. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, mit stolzgeschwellter Lindner-Brust und kreischender Bremse auszutrudeln. Das Land muss schnell Richtung Zukunft. Dass die Regierung dabei sorgsam lenken muss und nicht überziehen darf, ist klar. Aber wer sich in den Stillstand bremst, kann ohnehin nicht mehr lenken.

Von Florian Naumann

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