„Darf endlich offener darüber sprechen“ - Ukraine-Veteran packt aus und rechnet mit „absurdem“ Militärsystem ab

Sollten die Russen ihn erneut in Kriegsgefangenschaft nehmen, würde Stanislaw Assejew sich umbringen. Das beschloss er vor seinem ersten Tag am Maschinengewehr, Ende des vergangenen Jahres.

Zweieinhalb Jahre lang hatte er Elektroschocks, Schläge und Schikanen in einem berüchtigten Foltergefängnis im Donbass ertragen. Das war von 2017 bis 2019. Sollte er 2024 wieder in russische Hände fallen, würden sie ihn nicht wieder freilassen, sagt Assejew. Da sei er sich sicher. Daher sein Entschluss. „Ob ich es wirklich getan hätte, weiß ich nicht“, sagt er.

Assejew, 35, ist eigentlich Autor und Journalist. Auf Deutsch ist von ihm im vergangenen Jahr beim Suhrkamp-Verlag das Buch „Heller Weg, Donezk – Bericht aus einem Foltergefängnis“ erschienen. Als er sich im Dezember 2023 freiwillig bei der ukrainischen Armee meldet, wollen immer weniger Ukrainer Soldat werden. 

Russland rückt im Donbas vor. Der Ukraine fehlt Munition. Der Zermürbungskrieg zehrt an der wertvollsten Ressource der Ukraine: den Soldaten.

Aus drei Gründen melden sich Ukrainer für den Kriegsdienst

Das war auch der Moment, als Präsident Wolodymyr Selenskyj das Ausmaß der Personalnot in der Armee anerkennen musste. Er kündigte an, 500.000 Männer mobilisieren zu müssen, um Russland standzuhalten. Doch Berichte über Ukrainer, die fliehen, um nicht kämpfen zu müssen, häuften sich.

Angst. Rache. Geld – das seien die häufigsten Gründe, warum sich Ukrainer im dritten Kriegsjahr freiwillig zur Armee melden. Das sagt Oleksij Bezhevets, Rekrutierungsoffizier beim ukrainischen Verteidigungsministerium in Kyjiw, in einem Videogespräch mit dem Tagesspiegel. 

Die beliebtesten Stellen: Buchhalter, Koch, Drohnenoperator – je weiter weg von der Front, desto besser.

Doch ausgerechnet Stanislaw Assejew, der ehemalige Kriegsgefangene, entscheidet sich für den Job, den kaum noch jemand machen will: Infanterist am Maschinengewehr, an Linie 0, 200 Meter von den Russen entfernt.

„Wir versuchen, Artillerie mit Maschinengewehren abzuwehren“ 

Sechs Monate lang dokumentiert Assejew auf seinem X-Account den Alltag im Schützengraben bei der 109. Territorialverteidigungsbrigade. Einsatzorte: Oleksandropil und Archanhelske, in Richtung Awdijiwka, Oblast Donezk. Rund 45 Kilometer von dem Foltergefängnis entfernt, in dem er einst saß.

Auf seinem Account postet er Videos von sich an der MG 3 und der Kalaschnikow. Klacker, klacker, klacker. Fotos von Katzen, die ihm im Schützengraben zugelaufen sind. 

Und Kritik. Vor allem daran, dass westliche Unterstützung fehlt: „Wir versuchen, Artillerie mit Maschinengewehren abzuwehren.“ Doch das ist nicht der einzige Missstand, den Assejew feststellt.

Am 13. Oktober 2024 schreibt er: „Als Veteran darf ich endlich offener darüber sprechen, was an der Front passiert.“

Die größten Kriegsprobleme der Ukraine

Assejew benennt Probleme. Eines davon ist, dass westliche Luftabwehr fehlt. Vor allem aber kritisiert er ein veraltetes, ineffizientes und absurdes Armeesystem. Freiwillige werden nicht ausreichend ausgebildet, die Bürokratie lähmt die Kommandeure an der Front.

Asejew kritisiert nicht, um die ukrainische Armee schlechtzureden. Sondern weil er die russische Besatzung miterlebt hat – und sich wünscht, dass die ukrainische Armee effektiver dagegen kämpft. Dem Tagesspiegel berichtet er, als er schon kein Soldat mehr und von der Front nach Hause zurückgekehrt ist, in einem Videocall von seinen Erfahrungen.

Was war das Schlimmste, was Ihnen als Soldat widerfahren ist?
Stanislaw Assejew: Die Kämpfe in Archanhelske. Dort stürmten die Russen unsere Stellung und schlugen uns zurück. Wir standen eine Woche unter Dauerbeschuss und ich wurde verletzt. Aber eigentlich war das Schlimmste für mich die Ausbildung, bevor ich an die Front kam.

Was passierte dort?
Das Ausbildungszentrum erinnerte mich an ein Hochsicherheitsgefängnis. Du kommst dort nicht heraus und es passieren völlig absurde Dinge. Rein psychologisch waren die zwei Monate Ausbildung schlimmer als die Front, selbst als unsere Stellungen gestürmt wurden.

Was an der Ausbildung empfanden Sie als absurd?
Die Absurdität beginnt bei den Lebensbedingungen. Das Zentrum ist ein sowjetisches Gebäude. Es war so kalt, dass ich krank wurde und ins Krankenhaus musste. Und sie endet bei den Aufgaben, die uns die sowjetisch geprägten Offiziere stellten. Mit Ausbildung hatte das nichts zu tun. Wir sollten vor allem das Gebäude sauber halten, Kisten von einer Ecke in die andere schieben. Die militärische Ausbildung selbst nimmt vielleicht zehn bis 15 Prozent der Zeit dort in Anspruch.

Als Assejew im Februar 2024 zum ersten Mal ein Maschinengewehr hält, weiß er nicht, wie man schießt. Seine Kameraden bringen es ihm bei, im Schützengraben im Dorf Oleksandropil, Kampfrichtung Awdijiwka. „Sie zeigten mir auch andere Gewehre und Granatwerfer.“

Einer dieser Kameraden ist ein Mann mit dem Rufnamen Buhor. Dem Tagesspiegel ist seine Identität bekannt, doch er möchte anonym bleiben. Buhor ist seit dem 24. Februar 2022 dabei, dem ersten Tag des vollumfänglichen Krieges. Er hat schon vielen Anfängern das Schießen beigebracht. 

Manchmal innerhalb eines Monats. Auch wenn das eigentlich zu kurz sei. „Als Stas zu uns kam, da war die Situation am Schlachtfeld schon etwas härter“, erzählt Buhor im Videocall, als er schon wieder zu Hause bei seiner Familie ist.

Buhor nennt Assejew „Stas“, kurz für Stanislaw. Als Assejew also lernt zu schießen, geht es schon um Leben und Tod. Das Schlachtfeld ist der Übungsplatz. Doch es sei, wie es sei, sagt Buhor und lacht.

Stas und er lachen viel. „Er kommt aus Donezk, ich komme aus Donezk. Und so arbeiteten wir Seite an Seite.“ Generell sei seine und Assejews Einheit in der 109. Territorialverteidigungsbrigade eine „große Familie“. In einer anderen Brigade, in der Buhor später dienen wird, wird er den Eindruck haben, „jeder kämpft nur für sich“.

Veteran packt über  „absurdes Armeesystem“ aus

Die 109. Territorialverteidigungsbrigade soll die Russen aufhalten, ihre Angriffe vereiteln. „Alles, was die Russen haben, Drohnen, Granaten, Gleitbomben, das feuern sie zuallererst dir ins Gesicht“, sagt Assejew über seine Position.

Auf Videos, die Assejew postet, ragt der Lauf des Maschinengewehrs aus dem Unterstand, auf den Gegner gerichtet. „Du musst die Situation kontrollieren.“ Das heißt: aufmerksam sein; wenn nötig, schnell feuern. „Die Sicherheit der ganzen Einheit hängt von dir ab.“ Drei Stunden am Stück sitzt er am Abzug, bis ihn ein Kamerad ablöst.

Einmal wehrt Assejew einen russischen Sturmversuch ab. Als er von seinem Posten ins Lager zurückkehrt, fragt ihn sein Kommandeur, wie viele Patronen er verschossen habe. Buhor bestätigt dem Tagesspiegel diese Darstellung.

Assejew sagt, diese „Absurdität“ komme „von ganz oben“ – der Zugführer gebe diese Befehle an den Kompaniechef weiter. „Wir müssen während des Gefechts die Schüsse zählen. Das ist die Realität und das ist ein großes Problem, die Bürokratisierung des Systems.“

Assejew denkt, dass Kritik in der Armee unter Kommandeuren verpönt ist. Aus Angst, nicht befördert zu werden, wenn man Probleme meldet. „In die Berichte schreiben sie, dass alles gut läuft, und trotzdem verlieren wir eine Position nach der anderen.“

Oleksij Bezhevets, Rekrutierungsoffizier beim Verteidigungsministerium, erklärt, warum es schwer ist, Freiwillige zu rekrutieren: Selbst wenn sie anfangs einen Posten weit weg von der Front bekommen, wissen sie nie, ob sie nicht eines Tages versetzt werden.

Und sie wissen, „dass sie einem großen Militärkörper beitreten, der nicht perfekt ist“. Dennoch schaffe es das Verteidigungsministerium, jeden Monat durchschnittlich 6500 Freiwillige anzuwerben.

Können Sie nachvollziehen, dass sich Menschen aus diesen Gründen gegen die Armee entscheiden?
Oleksij Bezhevets: Für mich ist die Entscheidung ganz einfach: Entweder man verteidigt sein Land oder man lässt zu, dass hier bald ein großer Genozid passiert. Aber das scheint für viele nicht so offensichtlich zu sein wie für mich.

Zweieinhalb Jahre in Haft

Wenn die Russen nicht gerade mit Infanterie oder Artillerie angreifen, tröpfeln die Sekunden im Schützengraben dahin. Dann erinnert das Stanislaw Assejew an seine Zeit in der Gefangenschaft. „Die Gräben unter der Erde sind eng, die Zeit an der Front vergeht langsam und du kannst deine Stellung nicht einfach verlassen“, sagt er. Das sei wie in der Strafkolonie.

2017 nahmen die russischen Besatzer Assejew in Donezk fest und sperrten ihn in das Foltergefängnis „Izolazija“, zu Deutsch: Isolation. Assejew hatte verdeckt über das Regime berichtet, das russische Truppen ab 2014 in den sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk errichtet hatten.

Er publizierte unter Pseudonym, doch die Besatzer identifizierten ihn. Wie, weiß er bis heute nicht. Sechs Vergehen wurden ihm vorgeworfen, darunter Kritik am Regime, allesamt „Extremismus“. Und Spionage. „Aber Letzteres habe ich nur unterschrieben, weil ich mit Strom gefoltert wurde“, hat Assejew dem Tagesspiegel im Frühjahr 2023 im Interview gesagt.

Seine Strafe: zweimal 15 Jahre Haft. Das erste Jahr verbrachte er mit einer Plastiktüte über dem Kopf, zur Folter. Gerettet hat ihn das Schreiben. Assejew tat es heimlich, auf einem Stück Pappe, das er auf dem Zellenboden fand. Nach insgesamt zweieinhalb Jahren kam er durch einen Gefangenenaustausch frei.

Nach seiner Haft veröffentlichte er sein Buch „Heller Weg, Donezk“. Darin schreibt er: „Weder die Administration noch andere Gefangene stellen eine so große Gefahr dar wie der Überfluss an freier Zeit, der sogar die pragmatischsten und geerdetsten Menschen dazu bringt, über ihre Lage nachzudenken.“

Am 30. April 2024 stürmen russische Soldaten die Position von Assejews Einheit in Archanhelske. Die Eskalation nach einer Woche Dauerbeschuss. Assejew postet auf X: „Die gesamte russische Militärindustrie versucht, uns zu töten. Aber, verdammt, wir sind noch am Leben.“

Da keine Gehirnerschütterung zu bekommen, sei unmöglich, sagt Assejew. „Die ganze Zeit hagelten Geschosse auf uns nieder.“ Die Russen nehmen das Dorf ein, Assejew und seine Kameraden fliehen in verschiedene Richtungen.

Sie versuchen über kleine, versteckte Dorfpfade zu fliehen, berichtet Buhor. „Aber ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass wir es lebend da rausschaffen.“ Auch er hat zu dem Zeitpunkt schon eine Gehirnerschütterung.

Assejew rennt. Allein. Dann: wieder Raketeneinschläge, einer, zwei … zwölf. „Sehr nah und extrem laut.“ Assejew rennt immer weiter, mit seiner Gehirnerschütterung. Bis er ein anderes Bataillon seiner Brigade erreicht. Er wird evakuiert.

Sie berichteten immer wieder auf X davon, dass Waffen, die der Westen verspricht zu liefern, zu langsam ankommen. Wie hat Sie das betroffen?
Stanislaw Assejew: Ich hatte zwar mein Maschinengewehr und auch genug Patronen. Aber wir waren hilflos gegen die Gleitbomben, die die Russen ständig eingesetzt haben. Weil wir keine Luftabwehrsysteme hatten, um sie abzuschießen, bevor sie bei uns auf dem Boden einschlagen. 

Ob du da überlebst, ist reines Glück. Wenn so eine Bombe in deiner Nähe einschlägt, kannst du dich nicht verstecken. Die Russen feuerten jeden Tag fünf solcher Gleitbomben auf uns. Zum Glück trafen sie unsere Gräben nicht. Aber viele, viele Dörfer um uns herum.

Assejew muss im Krankenhaus behandelt werden. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma. Bevor er nach etwa einer Woche wieder an die Front geht, spricht er bei einer Veranstaltung in Kyjiw über seine Haft in der „Izolazija“ und sein Buch. Da schreibt Assejew bereits an einem neuen.

Wie schreibt man ein Buch an der Front?
Stanislaw Assejew: Das Schreiben an der Front ist kein Problem, es ist die Lösung eines Problems. Wie in der Gefangenschaft auch ist es eine Möglichkeit, Stress abzubauen und die Gedanken, die einem im Kopf herumschwirren, in etwas Konstruktives zu übersetzen. 

Rein technisch ist es ganz einfach. Ich tippte in einen Mailentwurf auf diesem Handy, vor dem ich nun hier sitze und durch das ich mit Ihnen spreche.

In Assejews neuem Buch wird es um das Laufen gehen. Während seiner Kriegsgefangenschaft hatte er den Traum, einmal von Kyjiw nach Lissabon zu laufen. Er kam bislang nicht dazu, ihn zu verwirklichen. Als der Krieg begann, musste Assejew die Idee vorerst verwerfen. „Wie hätte es ausgesehen, wenn ich vor dem Krieg weggelaufen wäre?“

Schrieben Sie an der Front über das Laufen, weil Sie nicht einfach aus dem Schützengraben weglaufen können?
Stanislaw Assejew: Um unsere Stellungen zu erreichen, müssen wir zum Antritt jeder Schicht etwa fünfhundert Meter über das Feld rennen. Dort gibt es keine Gräben unter der Erde, durch die man hindurchgehen könnte. 

Wir müssen schnell sein, damit die Russen uns nicht sehen und beschießen. An der Front rennt man also ständig. Aber Sie haben recht, man läuft nicht dorthin, wohin man gerne möchte.

Granatsplitter wird Assejew fast zum Verhängnis

Der glücklichste Moment seiner Dienstzeit ereignet sich am 1. Juli 2024, sagt Assejew. In Oleksandropil, in der Nähe des Donezker Dorfs New York, das kurz danach von russischen Truppen besetzt werden wird. 

Ein Granatsplitter bohrt sich in Assejews Hals. Er verfehlt die Schlagader knapp. Assejew überlebt. Er spricht von einem „Wunder“.

„Wir mussten zwanzig Minuten ausharren, bevor wir uns bewegen durften. Eine russische Drohne schwirrte über uns und überwachte jede unserer Bewegungen.“ Ein junger Kamerad, ganz frisch im Dienst, rettet ihn. „Er hat sich so professionell verhalten, als wäre er ein erfahrener Soldat.“

Die erfahrenen Soldaten bekommen Panik. Der junge Mann leistet Assejew Erste Hilfe, stützt ihn auf den zwei Kilometern zum nächstgelegenen Evakuierungspunkt.

Am 2. Juli postet Assejew ein Foto von sich aus dem Krankenhaus, Mullbinden an Hals und Rippen. In die Kamera hält er den Splitter, der zuvor noch in seinem Hals steckte. Zwischen Daumen und Zeigefinger, etwa so groß wie ein Centstück.

Assejew schreibt: „Knock knock knocking on heaven’s door.“ Die Splitter hätten ihn nicht umgebracht, es gehe ihm also gut. „Nur meine Garderobe muss ich ersetzen“ schreibt er, dazu ein Foto seiner Uniform. Burgunderrot auf Khaki.

Paradoxe Lösung für Kiews Personalproblem

Diesmal kehrt Assejew nicht mehr ans Maschinengewehr zurück. Es vergehen zwar noch zwei Monate, bis er auf dem Papier seinen Kriegsdienst beendet hat. Doch in der Zwischenzeit wird seine Brigade aufgelöst: Zu viele seien entweder desertiert, zu schwer verletzt oder tot.

Ein gewöhnlicher Soldat muss in so einem Fall in einer anderen Brigade weiterkämpfen. Doch Assejew ist kein gewöhnlicher Soldat. Er war einmal Kriegsgefangener, das ändert alles. Für Männer wie ihn gelten Ausnahmen.

Für Männer wie Buhor, die Väter von drei oder mehr Kindern sind, auch. Sie müssen gar nicht erst zur Armee. Wenn sie es freiwillig tun, dürfen sie jederzeit aufhören. Ein Privileg. Denn sonst gilt: Wer sich verpflichtet hat, muss gegen Russlands Besatzungstruppen kämpfen. Bis zum Schluss. Oder so lange, bis die ukrainische Armee ihr Personalproblem löst.

Für Assejew liegt die Lösung auf der Hand – so paradox sie erst einmal klingt: Alle anderen sollten auch die Möglichkeit bekommen, ihren Kriegsdienst zu beenden, so wie er. Das mache das Soldatsein wieder attraktiver, auch am Maschinengewehr, Linie 0, 200 Meter von den Russen entfernt.

(Mitarbeit: Kateryna Kovalenko)