14 Jahre nach Hilferuf von Kirsten Heisig - „Rächt sich nun bitter“: Richterin wirft Staat Versagen im Kampf gegen Jugendgewalt vor
Aktuell ist Sassenroth für Jugendstraftaten in den Bezirken Lichtenberg und Spandau zuständig und hat es zunehmend mit Minderjährigen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Tschetschenien zu tun.
„Die große Mehrheit der Flüchtlinge macht keinen Ärger“, sagt die Richterin. „Viele haben sich sehr schnell integriert, sprechen gut Deutsch, gehen zur Schule oder machen eine Ausbildung. Da merkt man wirklich, dass sie gern hier leben und es zu etwas bringen wollen.“
Andererseits gebe es immer wieder Migranten, „die unsere Gesetze und Regeln mit Füßen treten und unsere Gastfreundschaft missbrauchen“. Nicht wenige seien absolut unwillig, sich in unsere Gesellschaft einzufügen. Stattdessen hielten sie an „ihren alten, zum Teil archaischen Wertevorstellungen fest“ und lebten sie hier aus.
Eine Kriminellen-Gruppe, die Sassenroth im Moment stark beschäftigt, sind junge Zuwanderer aus Moldawien. Die fielen zwar „nur“ durch Diebstähle auf, „aber das am laufenden Band“. Nach Verurteilungen würden die Täter oftmals ausgewiesen, kämen jedoch postwendend zurück. Dann erhielten sie erneut finanzielle Unterstützung und Unterkunft – nur, um erneut Straftaten zu begehen.
„Das verstehe ich nicht“, wundert sich die Jugendrichterin.
„Rächt sich nun bitter": Staat hat bei Jugendgewalt versagt
Sassenroth wirft dem deutschen Staat vor, im Kampf gegen junge Kriminelle mit ausländischen Wurzeln versagt zu haben. „Das rächt sich nun bitter.“
Schon 2010 hat Sassenroths Jugendrichterin-Kollegin Kirsten Heisig mit ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ auf die gefährlichen Fehlentwicklungen hingewiesen.
Sie zeigte auf, welche Zusammenhänge bestehen zwischen Migration und Jugendgewalt. Zugleich verwies sie auf Versäumnisse von Schulen und Jugendämtern und beklagte ein zu lasches Agieren der Justiz. Heisig warnte eindringlich, der Staat müsse mehr Härte zeigen, sonst werde er „den Kampf gegen die Jugendgewalt verlieren“.
14 Jahre später zieht Sassenroth ein bitteres Fazit: „Aus meiner Sicht hat sich wenig zum Besseren verändert. Im Gegenteil. Oft habe ich den Eindruck, dass sich die Situation sogar verschärft hat.“
Auch nach Heisigs Hilferuf habe es der Staat nicht geschafft, an der Wurzel des Übels anzusetzen. „Gewalt und Kriminalität entstehen schon in unseren Kindergärten und Schulen“, weiß Sassenroth. Genau dort würden die Weichen fürs spätere Leben gestellt. Dort entscheide sich, ob jemand auf die schiefe Bahn kommt oder eben nicht.
Nach wie vor würden viele Kinder und Jugendliche mit den Problemen alleingelassen, die sie aus ihren Elternhäusern mitbringen. Zu wenig Fürsorge und Aufmerksamkeit, schlechte oder gar keine Deutschkenntnisse, keine Achtung vor unseren Werten, fehlende Perspektiven.
„Wenn es in Kitas zu wenige Erzieher gibt und in Schulen zu wenige Lehrer, die sich um Kinder aus schwierigen Verhältnissen kümmern, was wollen wir dann erwarten?“, fragt Sassenroth. Viele seien „schon verloren, ehe sie die Schule verlassen“.
Nirgends fänden sie Anerkennung und Zuspruch und könnten deshalb kein positives Selbstbild entwickeln. Ihr Weg sei gepflastert mit Niederlagen. „Das hinterlässt Spuren, das prägt.“
Die meisten jungen Straftäter, mit denen sie sich befasst, hätten ein „sehr geringes Selbstbewusstsein“, konstatiert die Berliner Jugendrichterin. „Mit ihren Straftaten wollen sie das kompensieren.“
Halt fänden sie nur in Gruppen, in denen Regelbrüche und Gesetzesverstöße „normal“ sind. Dort würden sie jenen Zuspruch bekommen, der ihnen anderswo versagt bleibt. „Anstatt überall unterzugehen, stehen sie endlich mal als die ‚Starken‘ da.“
„Probleme durch Migration und die Folgen von Corona“
Schon zu Zeiten von Kirsten Heisig, die sich 2010 kurz nach Erscheinen ihres Buchs das Leben nahm, sei Jugendkriminalität ein ernsthaftes Problem gewesen, sagt Sassenroth. Seitdem seien jedoch zwei Dinge verschärfend hinzugekommen: „Die Probleme durch Migration und die Folgen von Corona.“
Während der Pandemie hätten sich bei Kindern und Jugendlichen viele Probleme aufgestaut. Die lange Isolation von Freunden und Schulkameraden, überforderte Eltern, angespannte Wohnsituationen, Flucht in Drogen und Alkohol, fehlende medizinische Behandlungen, viele Monate der Unsicherheit – all das habe sich negativ auf die Entwicklung junger Menschen ausgewirkt.
„Jetzt schlagen die Folgen dieser Entwicklung durch“, so Sassenroth. „Jetzt sehen wir, was Corona mit unserer Jugend angerichtet hat.“ Sie berichtet von immer mehr Straftätern, die psychisch krank sind oder generelle Verhaltensauffälligkeiten zeigen.
Kinder und Jugendliche seien vielfach nicht mehr in der Lage, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. Sie neigten dazu, selbst bei kleinsten Schwierigkeiten aufzugeben und alles hinzuschmeißen, etwa in der Schule, bei einer Ausbildung oder im Beruf.
Diese Entwicklung sei fatal, mahnt die Richterin. Nicht selten gleiten solche Jugendliche in Kriminalität ab, sei es aus verzweifelter Langeweile oder weil sie Geld brauchen. „Diebstähle, Raubüberfälle, Handel mit Drogen und ähnliches – die Versuchungen, sein Leben auf illegale Weise zu finanzieren, sind groß.“
Die Jugendrichterin spricht bereits von der „Generation Corona“. Und mit Blick auf die von ihr bearbeiteten Fälle stellt sie fest: „Die Zündschnur ist bei vielen ganz kurz geworden.“
Jugendstrafverfahren in Berlin dauern im Schnitt 4,5 Monate
Werden die Täter ermittelt, sollten sie möglichst schnell belangt werden. „Je schneller der Staat eine Straftat ahndet“, weiß Sassenroth, „desto größer ist die erzieherische Wirkung“.
Das Problem: Die Zeitspanne zwischen dem Eingang eines Verfahrens bei Gericht bis zum Urteil wird zumindest in Berlin immer größer. Wohl auch eine Folge des Personalmangels in der Justiz.
- So liegt die durchschnittliche Verfahrensdauer aktuell bei 4,5 Monaten, teilte die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz auf Anfrage von FOCUS online mit.
- Vor zehn Jahren waren es lediglich 2,8 Monate, im Jahr 2020 etwa 3,4 Monate.
- Zugleich hält sich die Zahl der Jugendstrafverfahren beim Amtsgericht Tiergarten, das für ganz Berlin zuständig ist, auf einem gleichbleibend hohen Niveau. Gingen 2014 insgesamt 7978 Verfahren ein, waren es im vergangenen Jahr 7175.
- Beim Landgericht Berlin, wo die schweren Jugenddelikte verhandelt werden, stieg die Zahl der Verfahren im selben Zeitraum von 128 auf 140.
- Aktuell führt die Berliner Justiz 67 jugendliche und heranwachsende „Intensivtäter“, also junge Menschen, die immer wieder Verbrechen begehen.
Auch wenn die Jugendkriminalität statistisch gesehen zwischen 1998 (rund 692.000 Tatverdächtige) und 2023 (rund 483.000 Tatverdächtige) bundesweit deutlich zurückgegangen ist – in ihrer täglichen Arbeit hat die Berliner Richterin einen besorgniserregenden Trend ausgemacht: „Die Gewalt unter Jugendlichen nimmt deutlich zu, wir beobachten eine erschreckende Verrohung und Brutalität.“
Corinna Sassenroth: „Die Umgang unter Jugendlichen wird immer respektloser.“ Die Fälle von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Messern oder ähnlich gefährlichen Gegenständen habe deutlich zugenommen. „Messer spielen eine immer größere Rolle aus, zum Teil auch an Schulen.“
Eines von vielen Beispielen: Auf dem Berliner Teufelsberg war es zu einem Streit unter zwei Gruppen von Jugendlichen gekommen. Sie pöbelten sich an, es fielen beleidigende Worte gegenüber Mädchen, die Stimmung wurde zunehmend aggressiver. Plötzlich flogen Fäuste, jemand zückte ein Messer und stach auf einen Kontrahenten ein.
Sassenroth schickte den Täter ins Gefängnis.