„Warum holt China sich Russland nicht zurück?“: Taiwans Präsident legt Finger in historische Wunde
Im 19. Jahrhundert verlor China große Gebiete an Russland. Immer wieder werden Forderungen laut, sie zurückzuholen. Jetzt hat sich Moskau in die Debatte eingeschaltet.
Mit nur einem Halbsatz hat Taiwans Präsident Lai Ching-te vor wenigen Tagen eine mehr als 100 Jahre alte Diskussion wiederbelebt: „Warum holt China sich Russland nicht zurück?“, fragte Lai Anfang des Monats in einem Fernsehinterview. Zu verstehen war das natürlich nicht wörtlich. Vielmehr nutzte Lai die seit Langem im Raum stehende Forderung vieler Chinesen, von Russland im 19. Jahrhundert besetzte Gebiete zurückzuerobern, um auf die Situation seines eigenen Landes aufmerksam zu machen. Er glaube nicht, dass es China bei seinem Bestreben, Taiwan dem eigenen Staatsgebiet anzugliedern, um „territoriale Integrität“ gehe, sagte Lai. Denn: „Wenn es wirklich um die territoriale Integrität geht, warum holt sich China dann nicht Russland zurück?“
Natürlich sind beide Fälle – Chinas Ansprüche auf Taiwan und der Gebietskonflikt mit Russland – nicht vergleichbar. Einen Nerv hat Lai mit seinen Aussagen dennoch getroffen. Denn sogar Russlands Außenministerium sah sich nach dem Interview gezwungen, die Wogen zu glätten. „Was einige von Revanchismus besessene Randpolitiker darüber denken, darüber können sich andere Gedanken machen, aber wir nicht“, sagte Außenamtssprecherin Marija Sacharowa am Dienstag laut der russischen Nachrichtenagentur TASS. „Kurz gesagt: Lai, der von den Amerikanern zum Separatismus gedrängt wird, kann sagen, was er will, aber es wird weder ihm noch den Bewohnern Taiwans nützen.“

Russland betont „gegenseitigen Verzicht auf territoriale Ansprüche durch Moskau und Peking“
Die Wurzeln des Konflikts zwischen China und Russland lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals zwangen westliche Nationen, insbesondere Großbritannien, das technologisch und wirtschaftlich rückständige chinesische Kaiserreich in mehreren Kriegen in die Knie. Die chinesische Qing-Dynastie war gezwungen, mehrere Regionen an die imperialistischen Kräfte abzugeben – darunter neben Hongkong auch ein Gebiet in der Gegend des heutigen Wladiwostok, das um 1860 an Russland fiel und rund dreimal so groß ist wie das heutige Deutschland. Vor allem in Chinas sozialen Netzwerken wird immer wieder der Ruf laut, die verlorenen Gebiete zurückzufordern.
Die Grenze zwischen China und Russland erstreckt sich über eine Länge von mehr als 4000 Kilometern. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahrzehnten Unstimmigkeiten bezüglich ihres genauen Verlaufs, die 1969 sogar zu einem kurzen Krieg am Ussuri, einem Grenzfluss, führten.
Aktuell scheint der Konflikt um die Grenze jedoch gelöst zu sein. So unterzeichneten der russische Präsident Wladimir Putin und Chinas damaliger Staats- und Parteichef Jiang Zemin im Juli 2001 einen Freundschaftsvertrag, in dem der Verzicht auf jegliche Ansprüche ausdrücklich festgehalten wurde, und drei Jahre später ein „Zusatzabkommen über den östlichen Teil der russisch-chinesischen Grenze“. Beide Dokumente würden „den gegenseitigen Verzicht auf territoriale Ansprüche durch Moskau und Peking festschreiben“, sagte nun Außenamtssprecherin Sacharowa.
China und Russland: Seite an Seite auch im Ukraine-Krieg
Nur zwei Jahre nach Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags bestimmte allerdings Chinas Büro für Vermessung und Kartierung, dass auf offiziellen Karten mehrere russische Städte zwingend mit ihrem (alten) chinesischen Namen bezeichnet werden müssen – also beispielsweise Haishenwai statt Wladiwostok. Die Anordnung wurde auf ähnliche Weise 2022 wiederholt. Und das, obwohl Chinas Präsident Xi Jinping und sein russischer Amtskollege Putin ansonsten jeden Eindruck der Spaltung vermeiden wollen. Denn im Ukraine-Krieg hat sich Peking fest an die Seite des Kreml gestellt und unterstützt Russland diplomatisch und mit der Lieferung sogenannter Dual-use-Güter, die auch militärisch eingesetzt werden können. Mehr als 40-Mal haben sich Xi und Putin in den vergangenen Jahren getroffen, eine nächste Begegnung dürfte im Oktober in der russischen Stadt Kasam anlässlich des Gipfels der Brics-Staatengruppe folgen.
China unterstützt Russland auch wirtschaftlich und kauft große Mengen russischen Gases, der Handel zwischen beiden Ländern stieg 2023 auf ein Rekordhoch von mehr als 240 Milliarden US-Dollar. Auch dank Pekings Hilfe konnte die russische Wirtschaft den Kollaps bislang abwenden. Langfristig aber dürften der Krieg und die Isolation durch den Westen das Putin-Reich schwächen. „Moskau verpfändet seine Zukunft an Peking“, sagte unlängst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Schlägt bald also die Stunde der chinesischen Nationalisten, die eine Rückkehr von Wladiwostok nach China fordern? „Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, kann China davon ausgehen, dass ihm seine alten Gebiete eines Tages in den Schoß fallen werden“, schrieb der Sicherheitsexperte Jan Kallberg im ersten Kriegsjahr in einem Beitrag für die US-Denkfabrik Center for European Policy Analysis (CEPA). „Vorerst kann Wladiwostok unter russischer Flagge weiterbestehen – in der Gewissheit, dass es eines Tages höchstwahrscheinlich wieder zu Haishenwai werden wird.“ (sh)