Einem Fußballprofi, der bei Borussia Dortmund unter Vertrag steht und Anfang September erst 30 geworden ist, den Tiefpunkt seiner Karriere zu unterstellen, mutet frech an. Vielleicht sogar dreist. Zumal dieser Spieler fünf Meisterschaften gewonnen hat, zweimal den DFB-Pokal, die Champions League und den Confed Cup mit der deutschen Nationalmannschaft, für die er 49 Länderspiele absolvierte.
Aber erstens firmiert Niklas Süle inzwischen unter dem Etikett "Ex-Nationalspieler". Zweitens liegen seine glorreicheren Tage einigermaßen weit zurück. Und drittens steht Süle offenbar nicht mehr lange beim BVB unter Vertrag.
"Niklas Süle erinnert mich an Toni Kroos – wenn er da ist, okay, wenn nicht, dann auch okay"
Wie die "Ruhr Nachrichten" in dieser Woche meldeten, muss der Innenverteidiger spätestens im Sommer gehen; zu eklatant sei das Missverhältnis aus Gehalt (hoch) und Leistung (nicht so hoch). Rund zwölf Millionen Euro jährlich soll Süle verdienen, seit er 2022 vom FC Bayern geholt wurde.
Ironischerweise gab sein verheerender Auftritt bei der jüngsten BVB-Pleite in München den letzten Ausschlag, dass sie in Dortmund raunen: Süle war mal ein Top-Mann.
Und das ist tatsächlich der Tiefpunkt einer traurigen Entwicklung.
Kurz vor dem überraschenden BVB-Wechsel 2022 setzte sich Süles Berater Volker Struth in den Sport1-"Doppelpass" und monierte, dass sich sein Klient bei Bayern "nicht genügend wertgeschätzt" fühle. Dann platzierte Struth einen – speziell aus heutiger Sicht – interessanten Vergleich: "Niklas Süle erinnert mich an Toni Kroos. Wenn er da ist, okay, wenn nicht, dann auch okay."
Es hat seitdem nicht mehr allzu viele Vergleiche von Süle und Kroos gegeben.
2017 war Süle, ein gebürtiger Frankfurter, von Hoffenheim nach München gekommen, aber warmherzig wurde diese Zweckgemeinschaft nicht. Karl-Heinz Rummenigge nannte ihn einen "brauchbaren Spieler", der sich, leider, leider, "nie so wirklich durchgesetzt" habe bei Bayern. Süles Berufseinstellung bot Anlass zum Zwist, sein Lebenswandel ebenso. Ohne Corona, verriet Struth hinterher, wäre Süle schon früher wieder gegangen.
WhatsApp-Nachrichten enthüllten, wie Süle auf einen England-Wechsel drängte
Dabei bestritt der Defenivspezialist in Zeiten von Mats Hummels und Jérôme Boateng beachtliche 171 Pflichtspiele (sieben Tore) für Bayern. Trotzdem funkte es selten.
2017 hätte es im Übrigen nicht München, sondern die Premier League werden können, sagte Süle damals, aber "für mich war der Schritt nach England noch nicht der richtige". 2019 adressierte er seinen Wunsch erneut: Die Premier League sei "eine der Ligen, in denen ich unbedingt mal spielen will".
Im Herbst 2021 enthüllte der "Spiegel" brisante WhatsApp-Verläufe von Süle und Murat Lokurlu, dem Inhaber einer Sportagentur. Aus den Nachrichten ging hervor, dass Süle in den Jahren 2018 und 2019 offensiv auf einen Bayern-Abschied drängte.
"Check mal die Angebote aus England ob irgendjemand mich da will“, hieß es wörtlich. Oder: "Wenn einer sagt der würde mich nehmen von den großen Clubs sag mir Bescheid", namentlich "Arsenal Liverpool Chelsea aber am liebsten ManU". Später kam Tottenham in die Verlosung, "so ein geiler Club". Vor dem Corona-Jahr 2020 soll Süle geschrieben haben: "Keine Lust mehr hier will unbedingt nach England“.
Gewicht- und Fitnessthema zog sich durch Süles gesamte Laufbahn
Realisieren ließ sich nichts. Im Herbst 2019 erlitt Süle seinen zweiten Kreuzbandriss im linken Knie (den ersten hatte er 2014 bei Hoffenheim), 2020 war er Teil des Bayern-Superteams unter Hansi Flick, 2022 folgte der Transfer zum BVB.
In seiner ersten Saison erlebte Stammkraft Süle das Dortmunder Meister-Drama. Das zweite Jahr war bereits wechselhafter, geprägt zwar von der Giga-Grätsche gegen Kylian Mbappé, aber auch vom Reservistendasein bei den Highlightspielen im Frühjahr. Dortmund schaffte es ins Champions-League-Finale, doch Süle bestritt ab dem Viertelfinale nur noch 23 Minuten. Ansonsten saß er fit auf der Bank. Wobei "fit" ein dehnbarer Begriff ist.
Wenige Tage vor dem Endspiel gegen Real Madrid (0:2) tauchten Bilder auf, die Süle in erschreckender körperlicher Verfassung zeigten: merklich übergewichtig.
Seine Fast-Food-Vorliebe ist bekannt, das Thema Gewicht beschäftigte ihn die gesamte Laufbahn. "Ich kenne ihn aus Hoffenheim, da war er 17. Sechsmal Pizza und achtmal Döner – das geht nicht", sagte Ex-Coach Markus Babbel einmal lakonisch.
Süle: "Habe es nicht mehr hinbekommen, mich zu motivieren – ich wollte, aber konnte nicht"
2024 hatte das Ganze nicht nur physische Aspekte. Bei Sport1 gestand Süle: "Ich habe es mental einfach nicht geschafft, die richtigen Dinge zu tun. Ich habe es selber nicht mehr hinbekommen, mich zu motivieren. Ich wollte, aber konnte nicht. Ich habe dann ganz viele wichtige Gespräche geführt und mir Hilfe geholt." Einen Mentaltrainer nämlich. Außerdem ließ er sich bei der Ernährung helfen und trainierte rund zehn Kilogramm ab.
Dennoch wurden es 2024/25 lediglich 15 Bundesliga-Einsätze, ein Syndesmosebandriss setzte Süle schachmatt. Am Saisonende half er mit, den BVB noch in die Champions-League-Qualifikation zu hieven, kurz danach der nächste Rückschlag: Muskelbündelriss. In dieser Saison machte Süle gerade einmal drei Pflichtspiele, am Freitagabend fehlte er beim 1:0 über Augsburg wegen Zehenproblemen.
Für das DFB-Team lief der 1,95-Meter-Schrank, der in seinen besten Phasen eine ungeheure Wucht mit erstaunlicher Schnelligkeit und Dynamik vereinte, letztmals vor knapp zwei Jahren auf. Seien wir ehrlich: Es fühlt sich erheblich länger an.
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