Expertinnen appellieren - „Wenn Kinder keine Disziplin lernen, kommen sie schnell in die Opferrolle“

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Cat Erziehungsratgeber plädiert für mehr Disziplin bei Kindern
Montag, 17.03.2025, 14:11

Diszplin galt einst als Tugend – heute wird sie eher selten als entscheidender Wert in der Erziehung von Kindern betrachtet. Pädagogin Ursula Günster-Schöning und Psychologin Isabella Gölles halten das für einen Fehler und beschreiben Disziplin in ihrem neuen Buch als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts. Ein Interview.

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Mit „Disziplin – Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts“ haben Ursula Günster-Schöning und Isabella Gölles einen Erziehungsratgeber geschrieben, der auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Disziplin – das klingt nach Gehorsam, Regeln und Maßnahmen – und nicht nach zugewandter und bedürfnisorientierter Begleitung von Kindern, wie sie heute in den meisten Ratgebern empfohlen wird.

Doch der erste Eindruck täuscht. Was die beiden Erziehungsexpertinnen Eltern mit auf den Weg zu geben versuchen, ist ein durchweg liebevoller Ansatz, über den es lohnt, zu reflektieren.

Frau Günster-Schöning, Frau Gölles – Sie haben ein Buch über Disziplin geschrieben und plädieren dafür, dass Eltern sie ihren Kindern wieder stärker vermitteln sollten. Warum ist Disziplin für Kinder wichtig?

Ursula Günster-Schöning: Disziplin ist nicht angeboren und muss erlernt werden. Sie ist eine sehr wichtige Fähigkeit, der Motor für Entwicklung und auch für ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben. Für mich ist Disziplin daher die innere Stärke, die es einer Person ermöglicht, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, unabhängig von Ablenkungen oder Schwierigkeiten. Disziplin zeigt Kindern, dass sie Herausforderungen bewältigen und dadurch unabhängiger werden – sei es beim Lernen, im Sport oder im Alltag. So ist Disziplin die Grundvoraussetzung für Emotionsregulation, Verhaltenskontrolle, Frustrationstoleranz, und Durchhaltevermögen. Auch lässt mich die Disziplin Erfolge feiern, weil ich mich angestrengt habe und mich nicht nur vom Lustprinzip leiten lasse.

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„Disziplin – Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts: Ein Impulsbuch“, von Ursula Günster-Schöning und Isabella Gölles, erschienen im Vandenhoeck & Ruprecht - Verlag.

 

„Es geht vor allem darum, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen“

Der Begriff Disziplin hat heute eine gefühlt negative Konnotation, vor allem im Zusammenhang mit Erziehung. Woran liegt das?

Günster-Schöning: Disziplin war früher einmal recht positiv besetzt. Leider wurde der Begriff Disziplin aber auch lange Zeit missbraucht und vor allem mit Disziplinierungsmaßnahmen und Machtausübung gegenüber Kindern in Verbindung gebracht. Viele Menschen verbinden Disziplin daher mit Zucht und Strenge, oder rigiden Maßnahmen und Unterdrückung, teilweise sogar mit Verachtung. Und natürlich wollen Eltern das nicht für ihre Kinder.

Dabei geht bei der Auseinandersetzung mit Disziplin im eigenen Leben nicht darum, sich ständig selbst zu kasteien, oder im Zusammensein und der Arbeit mit Kindern, ob nun in Kita, Schule oder Elternhaus, darum, Kinder anzuleiten, wie sie exakt äußere Regeln beachten und permanent gute Leistungen erbringen. Sondern es geht vor allem darum, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Zu lernen, sich eigene Ziele zu setzen, an sich selbst zu glauben und sich selbst zu motivieren, um diese dann auch zu erreichen.

Das ist ja im Grunde etwas, das sich sicher die meisten Eltern für ihre Kinder wünschen. Warum setzen es aus Ihrer Sicht zu wenige um?

Günster-Schöning: Ich unterstelle erst einmal allen Eltern, dass sie das Beste für ihre Kinder wollen. Dabei wird aber manchmal vergessen und auch außer Acht gelassen, dass die positive Disziplin, also eine natürliche, echte, zugewandte Autorität für die Kinder zu sein, genauso substanziell und wichtig ist, wie ihnen die Möglichkeit für Freiraum, Mitbestimmung und Selbstbestimmung zu geben. Kinder sind nun mal noch keine kleinen Erwachsenen und sie brauchen ein Stück weit auch diese liebevolle Führung und Begleitung. Oder wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul es sagte: Ein Nein aus Liebe.

Über Ursula Günster-Schöning

Ursula Günster-Schöning ist systemische Organisationsentwicklerin, Senior Coach QRC, systemischer Coach (DGSF) und päd. Koordinatorin mit über 30 Jahren Berufserfahrung als Weiterbildnerin und Prozessbegleiterin. Als staatlich anerkannte Fachwirtin im Sozialwesen und Erzieherin war sie 20 Jahre im Bereich der Elementarpädagogik tätig, sechszehn Jahre davon als Führungskraft. 2006 gründete sie das Fortbildungsinstitut ERFOR und begleitet seitdem Teams bei Veränderungsprozessen. Zudem arbeitet sie als Speaker, Moderatorin, Weiterbildnerin und coacht Führungskräfte. Als Autorin verfasst sie regelmäßig Fachartikel und kann auf zahlreiche Publikationen zurückblicken. 

 

Also fehlt es den Eltern an Autorität?

Günster-Schöning: Ich glaube, dass die meisten Mütter und Väter täglich vor der Herausforderung stehen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen und dass sie bedingt durch diesen Stress manchmal dazu neigen, den leichteren Weg zu gehen.

Das heißt, dass sie vielleicht eher Ja sagen, obwohl sie Nein meinen, dass sie wenig von ihren Kindern einfordern und es lieber selbst machen, weil sie denken, dass es dann schneller geht oder weil sie Auseinandersetzungen mit ihren Kindern vermeiden wollen. Auch verstehen sie Mitbestimmung und Beteiligung von Kindern falsch und überfordern sie, indem sie verlangen, dass ihre Kinder alles selbst entscheiden sollen, egal, wie alt sie sind.

Erziehung und Beziehung geht jedoch nicht mal eben so, wie nebenbei. Vielmehr braucht es einen langen Atem und viel Geduld, sowie auch Anstrengungsbereitschaft und den Mut, sich Konflikten mit Kindern zu stellen. Disziplin – liebevoll und klug vermittelt – ist keine Einschränkung, sondern eine Befähigung für ein erfülltes Leben.

„Kinder lernen Disziplin nicht durch Worte, sondern durch Vorbilder“

Dann fehlt es also an Anstrengungsbereitschaft?

Ich glaube, dass die Eltern heute sehr bemüht sind, gleichwohl aber manchmal vergessen, dass es wichtig ist, Kindern auch etwas zuzumuten. Ihnen Aufgaben zu übertragen und auf deren Erledigung zu bestehen, anstatt sie ihnen dann doch wieder abzunehmen. Dieser Lernprozess des Tuns, auch wenn man gerade keine Lust hat, ist so wichtig. Hier müssen die Eltern Vorbilder sein und mit positiver Autorität sehr wohlwollend, aber auch sehr klar sein und vorleben, was Disziplin bedeutet. Denn Kinder lernen Disziplin nicht durch Worte, sondern durch Vorbilder. Erwachsene, die diszipliniert und gleichzeitig mitfühlend handeln, inspirieren Kinder, diese Haltung zu übernehmen.

Wie können Eltern denn Disziplin vorleben?

Günster-Schöning: Sie können ihrem Kind im Alltag wunderbar spiegeln, dass sie jetzt selbst gerade keine Lust auf eine Aufgabe haben, diese aber trotzdem erledigen. Etwa indem sie z.B. sagen: „Ich hab jetzt zwar überhaupt keine Lust, das Badezimmer aufzuräumen und zu putzen. Viel lieber würde ich eine Serie gucken oder etwas mit dir spielen. Aber weißt du was? Ich mach jetzt die Musik an und lege los. Und wenn das Bad dann fertig ist, dann machen wir was Schönes.“

Wenn Kinder das häufiger miterleben, dass man etwas macht, weil es getan werden muss, auch wenn man keine Lust hat, können sie das Prinzip auch auf sich selbst übertragen. Ich wünsche mir, dass Eltern wieder mehr bereit sind, das vorzuleben und zu zeigen, dass Disziplin und Anstrengungsbereitschaft nichts Schlechtes sind. Das Disziplin kein starres Korsett ist, sondern ein Geschenk, das Kindern hilft, ihre Talente zu entfalten, mit Freude zu lernen und ihren Platz in einer komplexen Welt zu finden. 

„Wenn Kinder keine Disziplin lernen, kommen sie schnell in die Opferrolle“

Was passiert denn, wenn Disziplin nicht ausreichend vermittelt wird?

Isabella Gölles: Dann können sich die Kinder als Erwachsene nicht selbst verwirklichen, das heißt, sie können ihre persönliche Entwicklung nicht selbst vorantreiben. Sie geraten leichter in eine Opferrolle und können nicht so selbstbestimmt leben wie ein disziplinierter Mensch.

In welcher Hinsicht?

Gölles: Disziplin ist die Fähigkeit, sich selbst zu überwinden, auch wenn es unangenehm ist. Genau das macht uns zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft, zu Menschen, die auch etwas weitergeben können. Und davon hängt auch unser soziales Zusammenleben ab. Wir können nur friedlich in einer Gruppe leben, wenn wir uns auch einmal zurücknehmen können. Und das wird mit den Kindern derzeit viel zu wenig geübt – weder zu Hause noch in den Betreuungseinrichtungen, in denen die Kinder ja viel Zeit verbringen.

Über Isabella Gölles

Isabella Gölles ist Mutter, Primarpädagogin und Psychologin mit Schwerpunkt Resilienz im Frühen Kindesalter. Sie lebt und arbeitet in Tirol. Es ist ihr ein großes Anliegen, dass es den Kindern und Jugendlichen in dieser Welt gut geht.  

 

Warum glauben Sie, wird heute zu wenig Disziplin „geübt“?

Günster-Schöning: Es gibt heute so eine Diskrepanz in der Erziehung: Einerseits werden Kinder schnell in die Überforderung gebracht, weil der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft sehr, sehr hoch geworden ist. Andererseits erleben wir aber auch den Trend, dass Maßstäbe immer weiter heruntergeschraubt werden.

Viele Eltern greifen beispielsweise auf Spiele zurück, bei denen es keine Gewinner und Verlierer gibt, um ihren Kindern Frustrationen zu ersparen. Dies führt jedoch dazu, dass Leistung an Bedeutung verliert. Wenn es heißt, dass es keinen Sieger geben darf oder jeder als Erst-, Zweit- oder Drittplatzierter gefeiert wird, nur um das Wort „Verlierer“ zu vermeiden, wird den Kindern die Möglichkeit genommen, mit Misserfolgen konstruktiv umzugehen. Gleichzeitig können sie nicht den Stolz über eigene Erfolge empfinden.

Ich halte es für entscheidend, dass Kinder erleben, dass Scheitern und Frustration zum Leben gehören. Nur so können sie Strategien entwickeln, um mit solchen Situationen umzugehen. Dadurch entstehen wichtige Resilienzfaktoren, die sie befähigen, sich selbst zu motivieren und trotz Rückschlägen weiterzumachen. Eltern sollten daher bei Spielen und Aktionen abwägen, geht es jetzt um Teamgeist und das Miteinander oder um Wettbewerb und Leistung, die dann auch erbracht werden will und darf.

„Falsch verstandene Bedürfnisorientierung kann auch schädlich sein“

Das klingt schon ein bisschen nach „Kinder nicht zu sehr in Watte packen“. Aber es gibt ja auch Gründe dafür, dass Eltern in der Erziehung auch auf die Bedürfnisse ihrer Kinder achten.

Günster-Schöning: Eine bedürfnisorientierte Erziehung ist gut und hat zweifellos wertvolle Ansätze, etwa die Betonung von Empathie und respektvollem Umgang. Doch wenn diese Erziehung einseitig wird und die Befriedigung von kindlichen Bedürfnissen stets im Vordergrund stehen, kann das langfristig zu einem Ungleichgewicht führen. Denn alle haben Bedürfnisse, die Kinder, aber auch die Mama, der Papa, die Geschwister und alle anderen Menschen in der Gemeinschaft, in der wir leben. Kinder müssen daher auch lernen, dass nicht alle Wünsche sofort erfüllt werden können und dass Rücksichtnahme sowie das Übernehmen von Verantwortung ebenfalls zum Leben dazu gehört. Außerdem können durch die Fokussierung auf das Kind und die einseitige Bedürfnisorientierung auch leicht Überforderungssituationen eintreten.

Wie meinen Sie das?

Günster-Schöning: Ich mache mal ein konkretes Beispiel. Ich bin absolut dafür, Kinder an Entscheidungen teilhaben zu lassen. Gleichzeitig muss ich abwägen, auf welchem Entwicklungsstand das Kind steht. Ein Zwei- oder Dreijähriger ist nun mal kein kleiner Erwachsener. Ich kann einen Dreijährigen morgens fragen: Möchtest du die blaue oder die rote Hose anziehen? Diese Entscheidung kann das Kind treffen. Ich kann aber nicht die Schranktüren öffnen und sagen: Jetzt such dir mal was aus! Das überfordert das Kind.

Ich glaube, das wird manchmal im Alltag missverstanden. Die Eltern wollen es gut machen, indem sie die Kinder beteiligen, haben aber häufig das Maß der Beteiligung nicht gut im Blick. Kinder sind auch dann schon beteiligt, wenn sie gefragt oder informiert werden, oder wenn man ihnen eine Auswahl ermöglicht. Aber die Auswahl, die sollte der Erwachsene treffen, um dem Kind einen überschaubaren Rahmen zu bieten.

Gölles: Dem stimme ich absolut zu und möchte noch ergänzen, dass falsch verstandene Bedürfnisorientierung auch wirklich schädlich sein kann. Ein Beispiel: Eine Bekannte von mir war mit ihrer Enkelin im Schwimmbad, und als sie das Mädchen zu ihrer Mutter zurückbrachte, sagte das Kind: Ich kann jetzt schwimmen! Die Oma sagte: Du kannst noch nicht schwimmen, du hast nur einen Zug gemacht. Richtig schwimmen kannst du, wenn du zehn oder mehr Züge schaffst. Aber sie hielt sich zurück, weil sie sich nicht in die Erziehung ihrer Tochter einmischen wollte. Die Mutter hingegen klatschte und lobte das Kind übermäßig.

Natürlich war es das Bedürfnis des Kindes, gelobt zu werden. Wichtiger wäre aber gewesen, dass es eine ehrliche Rückmeldung bekommt. Die Mutter hätte sagen können: „Ich freue mich mit dir, dass du schon einen guten Anfang gemacht hast. Und wenn du weiter übst, kannst du bald richtig schwimmen.“

„Eltern sind nicht die Freunde des Kindes“

Also müssen Eltern auch mal unangenehme Wahrheiten aussprechen?

Günster-Schöning: Absolut. Eltern sind nicht die Freunde des Kindes. Sie sind die Mama oder der Papa, das heißt, sie haben einen Fürsorgeauftrag, einen Schutzauftrag und auch einen Erziehungsauftrag. Freunde suchen sich die Kinder selbst aus. Mama und Papa geben Halt und Liebe, sie sind der sichere Hafen, geben Orientierung und den Rahmen vor, in dem das Kind sich dann frei entfalten kann. Das bedeutet auch, dass man sich im Alltag hin und wieder aneinander reibt.  

Manchmal möchte man vielleicht aber auch einfach Ruhe und Harmonie zu Hause genießen und nicht ständig Disziplin einfordern.

Günster-Schöning: Disziplin ist etwas, das man seinen Kindern im liebevollsten Sinne vermittelt. Aber neben aller Wertschätzung für die Disziplin braucht es auf der anderen Seite auch das Vertrauen in die Kinder, dass sie aus sich selbst heraus Dinge entwickeln können. Das Schönste, was man Kindern mitgeben kann, sind Selbstwirksamkeitserfahrungen, also Möglichkeiten, bei denen sie spüren, dass da jemand ist, der sie unterstützt, der ihnen hilft, jedoch vor allem darauf vertraut, dass sie gewisse Dinge selbst schaffen können.

Es braucht eine Balance zwischen klaren Regeln und dem Freiraum, Dinge auf eigene Art und Weise anzugehen, vor allem mit Blick auf die eigene Motiviertheit und Engagiertheit. Denn wenn ich immer nur Vorgaben bekomme, gemaßregelt werde, vielleicht sogar eine Bestrafung für schlechte Leistung erfahre – dann führt das eher zu Widerstand, Ablehnung und Aufbegehren.

Wenn ich aber Disziplin als einen roten Faden im Leben verstehe, der mir hilft, mein Leben so zu gestalten, wie ich es möchte, der mir hilft, selbstwirksam zu werden, Aufgaben zu Ende zu bringen und Ziele zu erreichen, dann ist das etwas Wunderbares. Und so ermöglicht die Disziplin dann auch Kindern zu erkennen, dass sie durch eigene Anstrengung Dinge erreichen können – ein essenzielles Fundament für Selbstvertrauen.