Indien greift die Wirtschaftsmacht China an – wird es wirklich die „neue Werkbank der Welt“?

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Premierminister Modi will Indien zum entwickelten Land machen. Der Westen schwärmt von einem neuen Partner, doch die Wirtschaft kämpft mit vielen Problemen.

Indien wählt ein neues Parlament, schon seit Mitte April und noch mehrere Wochen lang. Derzeit läuft die zweite Phase der Wahl – in 13 Staaten, darunter Uttar Pradesh, einer der ärmsten Bundesstaaten mit sagenhaften 240 Millionen Menschen, und Maharashtra, einer der reichsten Bundesstaaten, mit dem Finanzzentrum Mumbai als Hauptstadt. Der Wahlkampf läuft während der Stimmabgabe weiter – Premierminister Narendra Modi wird nicht müde zu betonen, dass mit ihm und seiner Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) der Aufstieg Indiens begonnen habe. Sein Wahlsieg gilt als sicher.

2047 werde Indien ein entwickeltes Land sein, versprach Modi in einer berühmt gewordenen Rede zum indischen Unabhängigkeitstag im August 2022. Es ist das Mantra auch in seinem Wahlkampf.

Modis Regierung habe durchaus ökonomische Erfolge vorzuweisen, sagt Adrian Haack, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Neu-Delhi. Krasse Korruptionsfälle unter der Vorgängerregierung seien der Nährboden für den ersten Wahlerfolg der BJP im Jahr 2014 gewesen, so Haack. „Seither haben wir ein solides Wirtschaftswachstum. Die Zahl der Flughäfen hat sich von 74 auf 140 erhöht, die Zahl der Autobahnkilometer hat sich verdoppelt, die Elektrizität im ländlichen Raum wurde stark ausgebaut.“ Außerdem sei das Unified Payment Interface (UPI), ein von Modis Regierung eingeführtes digitales Echtzeit-Zahlungssystem, eine Erfolgsstory. UPI hat tatsächlich den Zahlungsverkehr in Indien revolutioniert, ähnlich wie in China werden selbst simple Einkäufe heute mit dem Smartphone bezahlt.

Kann Indien das nächste China werden?

Das „Make in India“-Programm der Modi-Regierung soll das Land zu einem Produktionszentrum von Weltrang machen, einer Art neuer Werkbank der Welt, einem neuen China. Das Programm hat nach einem Bericht von Bloomberg dazu beigetragen, dass die jährlichen ausländischen Direktinvestitionen seit 2014 um mehr als 40 Prozent gestiegen sind. Branchengrößen wie Microsoft, Toyota, Renault-Nissan oder Samsung haben in Indien investiert.

Definitiv profitiert das Land dabei von den Debatten im Westen über Diversifizierung und De-Risking von China. Der Westen umwirbt das Land als politischen und wirtschaftlichen Partner. Indien ist genauso riesig wie die Volksrepublik und wächst seit Jahren mit etwa sieben Prozent im Jahr. In China waren es 2023 nur 5,2 Prozent. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für Indien in diesem Jahr 6,5 Prozent Wachstum – und lediglich 4,6 Prozent für China.

Mitarbeiter arbeiten an einem Fließband im gemeinsamen Werk von Renault Nissan Automotive India in Oragadam, einem Vorort von Chennai.
Mitarbeiter arbeiten an einem Fließband im gemeinsamen Werk von Renault Nissan Automotive India in Oragadam, einem Vorort von Chennai. © AFP

Indien hat gegenüber China noch viel aufzuholen – und viel Wachstumspotenzial

Indien sei an einem ganz anderen Punkt seiner Entwicklung als China, glaubt Alicia Garcia-Herrero, Asien-Pazifik-Chefökonomin bei der Investmentbank Natixis in Hongkong. Ein Wachstumstreiber sei die Urbanisierung, die Indien noch weitgehend vor sich habe. Der Grund: Wer in die Städte zieht, verdient mehr und gibt dieses Geld auch verstärkt aus. Nur 35 Prozent der Inderinnen und Inder leben laut Garcia-Herrero derzeit in Städten – gegenüber 60 Prozent in China. „Wenn es nicht zu einem großen Schock kommt, ist die indische Wirtschaft auf dem besten Weg, sich in den nächsten Jahrzehnten der chinesischen anzunähern“, schreibt sie. Indien werde künftig noch deutlich mehr ausländische Direktinvestitionen in sein verarbeitendes Gewerbe ziehen.

Neu-Delhi wirbt um diese Investoren mit Sonderwirtschaftszonen und Anreizen bei Steuern und Landkauf, wie es einst China vorgemacht hat. Die Investitionsströme hätten China in den vergangenen Jahrzehnten seinen gewaltigen Aufschwung beschert, so Garcia-Herrero. „Doch nun suchen ausländische Unternehmen und Regierungen nach alternativen Produktionsstandorten.“ So wie der taiwanische iPhone-Lizenzfertiger Foxconn, der bislang vor allem in China aktiv ist. Dieser will im südlichen Bundesstaat Karnataka insgesamt 2,7 Milliarden US-Dollar investieren, wie das Unternehmen im Dezember 2023 ankündigte. In zwei anderen Bundesstaaten ist Foxconn bereits aktiv.

Indien hat heute mehr Menschen als China

Letztes Jahr hat Indien mit seinen 1,43 Milliarden Menschen China als das bevölkerungsreichste Lande der Erde abgelöst. Die arbeitsfähige Bevölkerung liegt bei knapp einer Milliarde, das Medianalter bei nur 28 Jahren. Das bedeutet, dass genauso viele Menschen jeweils jünger und älter sind als 28. In China sind es 39 Jahre, und die Bevölkerung beginnt zu schrumpfen. Die Löhne und folglich die Arbeitskosten von Unternehmen sind in Indien deutlich niedriger als in China.

Doch viele der jungen indischen Arbeitskräfte sind nicht gut ausgebildet. Bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern sowie in technologischen Berufen hat China einen großen Ausbildungsvorsprung. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt stagniert bei 15 Prozent – obwohl Modi 2014 angekündigt hatte, ihn auf 25 Prozent zu heben und damit 100 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist nicht gelungen. Mehr als drei Viertel der Inderinnen und Inder arbeiten nach wie vor im informellen Sektor. Indien muss daher dringend sein Bildungssystem verbessern und mehr Einstiegsjobs für junge Menschen schaffen.

Smog, Korruption, Zölle: Noch gibt es viele Probleme

Hinzu kommen der unerträgliche Smog in vielen Großstädten, die noch immer grassierende Korruption und hohe Zölle von durchschnittlich gut 18 Prozent (China: 7,5 Prozent). Seit 2007 verhandelt die EU mit Indien über ein Freihandelsabkommen; die Gespräche sind schwierig und lagen zwischen 2012 und 2022 brach. Brüssel hoffe auf eine neue Dynamik nach der Wahl, sagt Haack – er selbst ist jedoch skeptisch: „Beide Seiten implizieren, dass die andere Seite nicht kompromissbereit sei – und beide haben recht.“ Die indische Politik wolle weniger Importe, sondern Fertigungen ins Land holen. Umgekehrt seien die von der EU geforderten Umwelt- und Sozialstandards von Indien mittelfristig nicht erfüllbar.

Wie es gehen könnte, zeigt die EFTA-Gruppe aus Norwegen, der Schweiz, Island und Liechtenstein: Sie schloss im März mit Indien ein Abkommen, demzufolge Indien Zölle auf Industriegüter senken wird und die vier Länder innerhalb von 15 Jahren 100 Milliarden US-Dollar im Land investieren.

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