Kürzung des Gehalts bei Krankheit: Diese Idee wird jetzt ernsthaft diskutiert
In Deutschland ist Arbeitnehmern die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sicher. Erfolgt nach einer Arbeit von zwei Experten nun ein Umdenken?
Mannheim – Deutschland kränkelt. Und das nicht erst im nasskalten Herbst. Versicherte Erwerbspersonen bei Die Techniker sammelten im Jahr 2023 im Schnitt 19,4 Tage mit Krankschreibung an, wie die Krankenkasse schreibt. In diesem Jahr waren es schon im ersten Halbjahr 9,6 Fehltage – ein neuer Höchstwert.
Die DAK stellte für die Monate Juli bis September unter ihren Versicherten einen Anstieg von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fest. Konkret bedeutet das 45 Fälle pro 100 Beschäftigten. In den drei sommerlichen Monaten hatte demnach fast ein Drittel der Arbeitnehmer mindestens einen Fall. Die AOK informiert, dass der Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 erwerbstätigen Mitgliedern aus dem Jahr 2023 nun schon im August erreicht wurde. Die Zahl der Krankmeldungen kennt also weiter nur eine Richtung: nach oben.
Viele Krankheitstage in Deutschland: Experten sehen Zusammenhang mit elektronischer Datenübermittlung
Mit den Hintergründen dieses unerfreulichen Aufschwungs setzten sich zwei Experten des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) auseinander. Nicolas Ziebarth und Stefan Pichler liefern vier Haupterklärungsgründe für das deutliche Plus seit dem Jahr 2022.
Neben der Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung erwähnen sie Covid-19, „Long Covid“ und weitere Infektionen sowie ein durch die Pandemie verändertes Fehlzeitverhalten und eine verbesserte elektronische Datenübermittlung. Letzteres heben sie dabei hervor und schreiben: „Es gibt starke Anhaltspunkte, dass der Großteil des Anstiegs der Fehlzeiten auf eine bessere statistische Erfassung der Fehlzeiten zurückzuführen ist.“ Heißt also: Die Dunkelziffer fällt weg.
Lohnfortzahlung bei Krankheit: Forscher erkennen Zusammenhang mit hoher Zahl an Fehltagen
Die Wissenschaftler kommen auch auf einen anderen Aspekt zu sprechen: die Lohnfortzahlung, die Deutschland als erstes Land auf der Welt einführte. Diese sei im Krankheitsfall nach der in Luxemburg aktuell „die wohl großzügigste weltweit“.
Zum Vergleich wird Schweden herangezogen, wo es einen Karenztag gibt, der gänzlich unbezahlt bleiben kann, ehe eine Lohnfortzahlung von 80 Prozent für bis zu zwei Wochen greift. Andere europäische Länder haben demnach ähnliche Regelungen, in den USA, Kanada, Japan und Korea gebe es hingegen gar keine flächendeckende und lückenlose Lohnfortzahlung.
Es sei auch ein Zusammenhang zwischen einer großzügigen Lohnfortzahlung und der Zahl der Fehltage festzustellen. So hätten Studien offenbart, dass Menschen gerade bei leichteren Erkrankungen die Entscheidung, sich krankzumelden, auch von monetären Anreizen abhängig machen.
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Lohnfortzahlung in Deutschland: Reform unter Kohl laut Forschern gescheitert
Zu erwarten sei demzufolge, dass bei einer von 100 auf 80 Prozent sinkenden Lohnersatzrate die Fehlzeiten im Mittel um etwa 20 Prozent abnehmen. Zwar sei diese Maßnahme umsetzbar, allerdings für die Politik auch mit Risiko verbunden. Als Beispiel wird die letzte schwarz-gelbe Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl herangeführt, die 1996 ein solches Lohnfortzahlungsgesetz verabschiedet hatte. Die Folge waren Massenproteste und Streiks, allerdings auch sinkende Fehltage.
Als SPD und Grüne unter Gerhard Schröder zwei Jahre später an die Macht kam, wurde diese Reform einkassiert. Danach stiegen die Fehlzeiten wieder an. Die ZEW-Forscher betonen jedoch: „Insgesamt muss die damalige Reform als gescheitert angesehen werden.“
Zwar seien aus ökonomischer Sicht zwei positive Folgen einer sinkenden Lohnfortzahlung festzustellen: Es würden sich weniger Menschen krankmelden, obwohl sie gar nicht krank sind, und es würden sich auch weniger Erwerbstätige aufgrund leichter Erkrankungen krankmelden. Damit gehen aber eben auch mehr Menschen krank zur Arbeit, wodurch die Gefahr steigt, Kollegen anzustecken.
Krankheit und Lohnfortzahlung: Grippe- und Covid-Infektionsraten sinken
Pichler und andere Experten hatten bereits festgestellt, dass die Grippe- und Covid-Infektionsraten sinken, wenn mehr Menschen Zugang zur Lohnfortzahlung haben. Statt auf finanzielle Einbußen bei den Angestellten zu setzen, raten die ZEW-Ökonomen Arbeitgebern dazu, bei leichten Erkältungskrankheiten der Arbeitnehmer in vertrauensvollen Gesprächen Alternativen wie Heimarbeit oder das Tragen einer Maske zu prüfen.
Möglich seien im Falle der Bereitschaft zu solchen Maßnahmen auch Anwesenheitsprämien, um die Angestellten zu belohnen. Außerdem sollten Beschäftigte über die strafrechtsrelevanten Tatbestände von „Blaumacherei“ aufklären. Eine Überlegung sei es wert, „den medizinischen Dienst und dessen Möglichkeiten zur Erstellung von Gutachten bei Arbeitsunfähigkeit auszuweiten“.
Eine zusätzliche Option könnte das Recht auf Teilzeitkrankschreibung sein, sodass Angestellte trotz Krankheit für ein paar Stunden arbeiten könnten. Bei der telefonischen Krankschreibung, die in Teilen der Politik sehr kritisch gesehen wird, würden die Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen. Weiter ist zu lesen: „Jedoch sollte eine Ausweitung der Krankschreibungspflicht ab dem ersten Fehltag geprüft werden.“
Zukunft der Lohnfortzahlung: Experten empfehlen „Flexibilisierung“ mit Recht auf Teilzeitkrankschreibungen
Für sinnvoll erachten die Experten „eine Flexibilisierung des Entgeltfortzahlungsgesetzes mit dem Recht auf ‚Teilzeitkrankschreibungen‘“. Gerade Letzteres findet Zustimmung. „Eine praktikable Form von Teilzeitkrankschreibung für einige Stunden täglich könnte den neuen Möglichkeiten Rechnung tragen und für mehr Flexibilität sorgen“, sagte Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, der Berliner Morgenpost.
Er ergänzte: „Ein Beispiel dafür sind Bagatellinfekte, bei denen der direkte Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen im Büro vermieden werden sollte. In solchen Fällen bietet das Arbeiten im Homeoffice aber unter Umständen die Möglichkeit, im begrenzten Umfang berufliche Aufgaben wahrzunehmen und sich dennoch zu erholen.“
Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion lobt Halbtagskrankschreibungen in der Welt als „flexible Lösung (…), um die Lücke zwischen kompletter Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsfähigkeit zu schließen“. (mg)