Inside Israel - die Top-Experten auf FOCUS online - Was mit Gaza und Hamas passieren muss, damit Israel sagt: Mission accomplished
Nach dem Überfall der Hamas auf Israel ist der Nahost-Konflikt wieder neu entbrannt. Israel bekämpft seitdem die Terrororganisation im Gazastreifen. Doch wie ist die militärische Lage genau? Unsere Experten geben fortlaufende Einschätzungen. Heute fragen wir: Was muss jetzt mit dem Gazastreifen und der Hamas passieren, damit Israel sagt: Mission accomplished?
Es war ein grauenhafter Angriff auf Unschuldige: Terroristen im Auftrag der im Gazastreifen herrschenden Hamas hatten am 7. Oktober in Israel ein Massaker unter Zivilisten angerichtet. Mehr als 1400 Menschen kamen dabei und in den folgenden Tagen ums Leben.
Rund 240 weitere wurden laut Israels Armee gewaltsam in den Gazastreifen verschleppt, darunter mehrere Deutsche. Seither bombardiert Israels Armee Ziele im Gazastreifen und führt eine Bodenoffensive in dem abgeriegelten Küstengebiet.
Aber was genau passiert vor Ort, wie ist die Lage einzuschätzen und welche militär-taktischen Konsequenzen hat das Vorgehen Israels und der Hamas? Unsere Experten (Details zu ihnen am Ende des Artikels) beantworten hier regelmäßig die wichtigsten Fragen.
Was muss jetzt mit dem Gazastreifen und der Hamas passieren, damit Israel sagt: Mission accomplished?

Die Verteidigungsstellungen der Islamisten, die in konzentrischen Kreisen um ihr Hauptquartier im Zentrum von Gaza-Stadt für einen urbanen Guerillakrieg angelegt worden waren, wurden zuvor wochenlang durch Luftangriffe „weichgeklopft“ und konnten die israelischen Panzer und Infanteristen nicht aufhalten.
Hatte die Hamas anfangs noch versucht, den Abzug der Zivilbevölkerung auch mit Gewalt zu verhindern, so scheint sie dies inzwischen aufgegeben zu haben. Die israelische Führung schließt daraus, dass „die Hamas in Gasa die Kontrolle verloren hat“.
Doch Militärexperten gehen davon aus, dass „die Armee noch viel Arbeit hat“ und dafür noch Monate brauchen wird. Denn das Ziel, das man zu Beginn des Krieges vorgegeben hat, ist sehr hoch gesteckt: die militärischen Kapazitäten der Hamas auszuschalten, die politische Rolle der Hamas im Gazastreifen zu beenden und gewährleisten, dass die Hamas Israel nie wieder bedrohen kann. Ja, aber man kann natürlich nie ganz sicher sein, dass nicht doch noch ein paar Hamas-Zellen mit ein paar Kalaschnikows und ein paar Raketenwerfern in irgendwelchen unentdeckten Tunneln ausharren.
Es gibt also keine präzise Antwort auf die Frage, wann die Mission als erfüllt betrachtet werden kann, und dazu kommt dann noch der Satz, der die Angehörigen der in den Gasastreifen verschleppten rund 240 Menschen aufrichten soll: Es kann kein Siegerfoto geben, solange nicht alle Geiseln frei sind."
Auch wenn es Israel vielleicht bald gelingen wird, den nördlichen Gazastreifen vollständig unter seine militärische Kontrolle zu bringen, ist derzeit unklar, wie es im Süden weitergehen soll. Im südlichen Gazastreifen waren von Anfang an drei der fünf Hamas-Brigaden stationiert, zudem sind dort jetzt fast alle Zivilisten, rund zwei Millionen Menschen, zusammengepfercht. Doch die Israelis zeigen sich wild entschlossen, das gesteckte Ziel zu erreichen.
Zwei Zitate von Verteidigungsminister Yoav Gallant: „Wir haben einzigartige Lösungen, um an alle Tunnel heranzukommen und sie unter der Erdoberfläche zu demolieren“ und „Die Terroristen werden zwei Möglichkeiten haben: entweder im Tunnel sterben oder herauskommen - und da entweder im Feuer unserer Streitkräfte sterben oder sich bedingungslos ergeben“.
Die Hamas hat nach Angaben der israelischen Armee die Kontrolle verloren. Die Geiseln sind jedoch noch in ihrer Gewalt. Welche Optionen hat die Terrororganisation jetzt noch und welche Geiselstrategie verfolgt sie?

Neben das ursprüngliche Ziel der Freilassung möglichst aller palästinensischen Sicherheitshäftlinge treten in der gegenwärtigen, für die Hamas schwierigen militärischen Lage taktische und strategische Ziele: Verzögerung oder gar Einstellung des Vorgehens der IDF, Bestandswahrung im Süden, freies Geleit für die Führung aus Nordgaza oder ganz Gaza (dann wohl in den Iran), Perspektive für die Hamas in Gaza oder nur noch im Exil.
Verhandlungen mit der Führung in Gaza über die Hauptsache (Geiseln) laufen immer geheim, strikt bilateral und immer über Vermittler. Ägypten kommt dabei aufgrund seiner unmittelbaren Präsenz an der Südgrenze des Gazastreifens und seiner traditionellen, auch geheimdienstlichen Beziehungen zur Hamas-Führung in Gaza seit jeher eine Schlüsselrolle zu.
Ägypten kann, wo nötig und gewünscht, auch die gerade unter Kriegsbedingungen notwendige operative Sicherheit für Geheimgespräche sowie für einmal gefundene Lösungen (Exfiltration der Geiseln aus Gaza) schaffen. Katar wäre hier eher für die Unterstützung der Gespräche über die weiteren regionalen und internationalen Rahmenbedingungen für Hamas und Gaza zuständig.
Die indirekte Kommunikation Israels mit der politischen Führung der Hamas erfolgt über die Regierung in Doha. Der Weg von und zu Yahya Sinwar, Leiter der Terrororganisation, in Gaza muss vermutlich über ein System von Mittelsmännern über Ägypten führen.
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Das größte Krankenhaus des Gazastreifens liegt nun unmittelbar in der Kampfzone, die WHO beklagt entsetzliche Zustände. Was passiert in dem Komplex und wie will die israelische Armee vorgehen?

Seit Kurzem steht man in der Phase des Häuserkampfs im Stadtzentrum von Gaza. Somit liegt jetzt etwa das Schifa-Krankenhaus, der größte medizinische Komplex im Gazastreifen, unmittelbar neben oder gar schon in der Kampfzone. Im Normalbetrieb hat das Krankenhaus bis zu 1400 Betten und vielleicht bis zu 4000 Mitarbeiter. In den ersten Wochen nach dem Kriegsausbruch dürften sich viel mehr Menschen in dem Areal aufgehalten haben, weil es als relativ sicherer Zufluchtsort galt.
Sehr viele haben dann aber offenbar den ständigen Aufforderungen der Israelis Folge geleistet, die Kampfzone in Richtung Süden zu verlassen. Israel bestreitet Meldungen, wonach das Krankenhaus beschossen worden sei und belagert werde. Die Ostseite der Anlage sei offen, und der freie Abzug von Patienten und Personal, auch in Ambulanzfahrzeugen, könne mit der Armee koordiniert werden.
Da das Krankenhaus in der Gewalt der Hamas ist, kann man den Angaben, die nach außen dringen, nicht unbedingt glauben. Ohne Zweifel sind aber die Zustände in Gaza und insbesondere in den dortigen Krankenhäusern katastrophal. Das Schifa-Krankenhaus ist dabei eine Art Symbol und Mikrokosmos der Problematik dieses Krieges. Die Anlage ist das krasseste Beispiel für den Missbrauch der eigenen Zivilbevölkerung durch die Hamas: an der Oberfläche und für alle sichtbar eine lebenswichtige, von Tausenden Menschen benutzte humanitäre Einrichtung – unter der Erde eines der Hauptquartiere der Dschihadisten mit betonierten Tunneln, die Büros, Versammlungsräume und vermutlich auch Waffen- und Munitionslager verbinden.
Vielleicht hat sich unter dem Schifa-Krankenhaus auch die Hamas-Spitze verschanzt, vielleicht werden dort auch einige der aus Israel verschleppten Geiseln festgehalten.
Solange sich noch Patienten, medizinisches Personal und sonstige Zivilisten in dem Krankenhaus-Areal aufhalten, werden israelische Truppen die darunter liegende Hamas-Zentrale kaum stürmen können. Wenn tatsächlich alle Zivilisten abziehen und die Hamas damit ihren menschlichen Schutzschild verliert, ist die Aufgabe vielleicht lösbar, aber immer noch sehr schwierig.
Israel hat Soldaten für die neue Disziplin des „Tunnelkriegs“ trainiert – das Kämpfen in einem engen Labyrinth, wo an jeder Ecke ein Feind hervorspringen oder eine Sprengstofffalle gestellt sein kann, bei schummrigem Licht und Sauerstoffmangel, stellt sehr spezielle Anforderungen.
Dafür sollen insbesondere „Schaumbomben“ entwickelt worden sein, also Chemikalien, die Teile des Tunnelnetzwerks durch einen sich rasch verfestigenden Schaum blockieren können. Man redet etwa auch von kleinen, eigens für den Flug durch Tunnel adaptierten Drohnen und eigenen Funkgeräten, die auch tief unter der Erde funktionieren. Aber mögliche Überraschungstaktiken, mit denen die Hamas gebrochen werden soll, sind natürlich gut gehütete Geheimnisse.
Täglich wird aus dem Gazastreifen die Zahl im Krieg mit Israel getöteter Palästinenser gemeldet. Wie glaubwürdig sind diese Informationen, und was kann man ihnen entnehmen?
Ben Segenreich: Das Zählen von Toten ist ein makabres und trauriges Unterfangen, es ist aber zur Einordnung von Ereignissen üblich und unerlässlich, etwa bei Naturkatastrophen, Seuchen, Flugzeugabstürzen, Anschlägen, Kriegen. Was Kriege betrifft, so dienen die gemeldeten Zahlen oft nicht bloß der Information, sondern auch als Waffen der Propaganda und der psychologischen Kriegsführung.
So waren die Kriege zwischen Israel und der Hamas immer auch Kriege der Zahlen. Und in der verdrehten Logik dieser Zahlenkriege gilt: Je schlechter es mir geht, desto besser geht es mir. Wer mehr Tote vorweisen kann, der hat in der Weltöffentlichkeit mehr Sympathien und mehr Unterstützung. Oder ganz verkürzt gedacht und gesagt: Wer mehr Tote hat, der ist im Recht.
Die Zahl der Toten, die von dem jetzt gerade tobenden Krieg aus dem Gazastreifen gemeldet wird, hat schon die Marke der 11.000 überschritten. Die gemeldeten Zahlen werden täglich ziemlich unreflektiert und automatisch von Medien und Agenturen übernommen. Dazugesagt wird dann oft: Die meisten der Toten im Gazastreifen sind Zivilisten. Oder: Die meisten sind Kinder und Frauen. Doch Achtung - denken wir einmal über die Zahlen nach! Zunächst: Die Quelle der Angaben ist immer das so genannte Gesundheitsministerium in Gaza. Diese Körperschaft ist schlicht ein Zweig des Hamas-Regimes, also ein Organ einer Terrororganisation. Schon allein deswegen muss man grundsätzlich skeptisch sein.
Und was sagt die Zahl nun aus? Man bekommt immer nur eine Pauschalzahl vorgesetzt, ohne Angabe oder gar Belege dazu, wie viele der Toten nun wirklich Zivilisten und wie viele Kombattanten waren. Diese Information wäre natürlich von eminenter Bedeutung. Es müssen schon Tausende Hamas-Leute getötet worden sein, aber die genaue Zahl wird systematisch verschleiert.
Konkretestes und krassestes Beispiel: An jenem 7. Oktober, an dem alles begann, sind geschätzt nicht weniger als 2900 Hamas-Terroristen nach Israel eingedrungen. Viele von ihnen sind jetzt in Israel in Gefangenschaft, aber die meisten wurden, nachdem das Massaker schon angerichtet war, bei Gefechten mit israelischen Soldaten erschossen. Man kann also vorsichtig schätzen: Rund 1500 Terroristen sind im Kampf auf israelischem Boden getötet worden. Sind diese 1500 schwerbewaffneten Killer jetzt auch in der Bilanz der 11.000 palästinensischen „Opfer“ dieses Kriegs enthalten?
Aber auch wenn wir die Zahl der getöteten Zivilisten genau wüssten, hätte sie fast keinen Aussagewert, wenn der Kontext nicht mitgeliefert wird. Wie viele Zivilisten wurden getötet, weil die Hamas neben ihnen Raketen abgefeuert hat oder ein Wohnhaus oder eine Moschee als Kampfstellung missbraucht hat? Wie viele wurden durch die Explosion eines Munitionslagers der Hamas getötet oder von Hamas-Raketen getroffen?
Ein allgemein verständliches Beispiel ist die Explosion auf dem Parkplatz eines Krankenhauses in Gaza am 17. Oktober. Die Hamas hat damals sofort 500 Tote gemeldet. Das war erstens weit übertrieben, und es handelte sich zweitens nicht um einen israelischen Angriff, sondern um den Einschlag einer von Palästinensern abgefeuerten Rakete. Ist diese erfundene Zahl von 500 jetzt auch in der Bilanz der 11.000 enthalten?
Das Elend der Menschen im Gazastreifen ist furchtbar, wird aber auch von der Hamas missbraucht. Die gemeldeten Zahlen der Toten muss man kritisch lesen. Wenn wir nur eine Pauschalzahl zitieren, dann wissen wir einfach nicht, wovon wir reden.
Die Top-Experten auf FOCUS online im Überblick
- Gerhard Conrad: Islamwissenschaftler und Nahostexperte, arbeitete 30 Jahre beim Bundesnachrichtendienst und war an geheimen Missionen beteiligt. Zwischen 2002 und 2011 verhandelte er über Geiseln- und Häftlingsaustausche zwischen Israel und Hisbollah sowie Hamas.
- Nico Lange: Senior Fellow der Münchner Sicherheitskonferenz, Hintergrund als Zeitsoldat der Bundeswehr, Magister in Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Informatik.
- Ralph D. Thiele: Oberst a.D., Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V., Präsident von EuroDefense (Deutschland) e.V. und CEO von StratByrd Consulting, militärische Laufbahn mit nationalen und internationalen, sicherheits- und militärpolitischen, planerischen und akademischen Verwendungen.
- Rachel Tausendfreund: Senior Fellow im Geostrategie-Team von German Marshall Fund (GMF), von 2015 bis 2022 redaktionelle Leiterin, forscht und schreibt über Innen- und Außenpolitik der USA und Deutschlands sowie transatlantische Beziehungen.
- Albert A. Stahel: Schweizer Militärexperte, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Professor für Strategische Studien an der ETH Zürich und der Universität Zürich, verfasste mehrere Fachbücher zu geopolitischen Themen.
- Dr. Ben Segenreich: Israel-Korrespondent des Nahost-Thinktanks „Mena Watch“ und freier Journalist, fast 30 Jahre lang Israel-Korrespondent des ORF (österreichisches Fernsehen und Radio) und der Wiener Tageszeitung Der Standard.
- Markus Bickel: Leiter des Teams des Security.Table (unseres Partners Table.Media), berichtete als Nahostkorrespondent über die Arabischen Aufstände, die jugoslawischen Nachfolgerepubliken, die Zedernrevolution und den Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006.
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