Umfrage unter 9000 Akademikern - Denkverbote an deutschen Unis? Studie zeigt die Wahrheit über „Cancel Culture“

Ob es um Geschlechteridentität, den Nahost-Konflikt oder andere heikle Themen wie Migration geht – zunehmend steht der Vorwurf im Raum, dass die Redefreiheit an deutschen Universitäten eingeschränkt werde. Doch wie berechtigt sind diese Bedenken wirklich?

Erstmals bietet eine repräsentative Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) wissenschaftlich fundierte Antworten auf diese Frage. Mit Unterstützung der ZEIT Stiftung Bucerius wurden rund 9000 Professoren, Postdoktoranden und Doktoranden an deutschen Hochschulen befragt, um ein klares Bild der Situation zu erhalten.

„Identitätslinke Läuterungsagenda“?

Die häufige Kritik: „Cancel Culture“, also die öffentliche Kritik oder der Boykott von als kontrovers geltenden Personen und Institutionen, betreffe auch den akademischen Bereich. Die Meinungsfreiheit an Hochschulen sei demnach beeinträchtigt.

Einige Hundert Professorinnen und Professoren haben sogar einen Verein namens „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die Universitäten vor einer Art von Radikalismus zu bewahren.

Die Vorsitzende Sandra Kostner erklärt, dass es das Anliegen der Gruppe sei, sich gegen eine „identitätslinke Läuterungsagenda“ zu stellen, die versuche, die Wissenschaft zu „ideologisieren, politisieren und moralisieren“, berichtet „Zeit Online“. Dies habe, so Kostner, bereits zu „spürbaren Verengungen des intellektuellen Klimas an den Hochschulen“ geführt.

Freiheit der Lehre und Forschung: Ein positives Gesamtbild, aber …

Doch was ist da dran? Die Studie zeichnet ein anderes Bild: Die überwiegende Mehrheit der Befragten gibt an, sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht eingeschränkt zu fühlen.

Laut den ersten Ergebnissen bewerten etwa 79 Prozent der Befragten den Zustand der Wissenschaft in Deutschland hinsichtlich Autonomie und Forschungsfreiheit als überwiegend positiv – bei den Professoren und Professorinnen liegt dieser Wert sogar bei 86 Prozent.

Allerdings zeigt sich, dass fast jeder fünfte Befragte (19 Prozent) die Freiheit in der Wissenschaft als eher problematisch empfindet, und drei Prozent bewerten die Freiheit in der Wissenschaft sogar als sehr schlecht. Acht Prozent der Befragten geben an, dass sie bei freier Gestaltung ihrer Forschung moralische Angriffe befürchten; bei der Lehre trifft dies auf sieben Prozent zu.

Klimawandel leugnen: Für ein Drittel der Befragten ist das ok

Die Ergebnisse zeigen auch, dass die wahrgenommenen Einschränkungen an deutschen Universitäten übertrieben sind. Es gibt nur kleine Unterschiede zwischen den verschiedenen Fachbereichen. Zwar befürchten Wissenschaftler aus den Geistes- und Sozialwissenschaften etwas häufiger moralische Kritik oder Schwierigkeiten in der Forschung, dennoch fühlen sich auch in diesen Fächern die meisten frei in ihrer Arbeit.

Um herauszufinden, wie tolerant die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gegenüber kontroversen Themen sind, wurden sie gefragt, welche Positionen an Universitäten akzeptabel sein sollten.

So zeigt die Studie, dass es an den Universitäten eine Offenheit für kontroverse Diskussionen gibt. Egal, ob es um Geschlechtsidentitäten, Rüstungsforschung oder Atomkraft geht. Die Mehrheit der Wissenschaftler ist demnach dafür, dass diese Themen frei erforscht und diskutiert werden können.

Ein Drittel findet sogar, dass man an der Universität den Klimawandel leugnen dürfen sollte. Aber das Ablehnen des Grundgesetzes geht den meisten zu weit. Nur sieben Prozent finden, dass das an Universitäten erlaubt sein sollte.

1,7 Prozent haben aus Sorge vor Druck Lehrveranstaltung abgesagt

1,7 Prozent der Befragten gaben aber auch an, in den letzten zwei Jahren eine Lehrveranstaltung aus Sorge vor Druck oder negativen Konsequenzen abgesagt oder abgebrochen zu haben. Ob diese 1,7 Prozent als unbedeutend oder als bemerkenswert gelten sollten, ist unter den Wissenschaftlern, die die Studie durchgeführt und ausgewertet haben, umstritten.

Und obwohl die Mehrheit der Wissenschaftler ihre Arbeit ungehindert ausführt, berichten sechs Prozent der Befragten, dass sie moralische Abwertungen oder berufliche Probleme in der Forschung erlebt haben.

Viele hätten den Ergebnissen zufolge auch aus Angst vor negativen Konsequenzen ihr Verhalten angepasst: 14 Prozent vermieden bestimmte Forschungsthemen, 12 Prozent fühlten sich unter Druck gesetzt und neun Prozent veröffentlichten Ergebnisse nicht aufgrund von befürchteten negativen Folgen.

Deutsches Wissenschaftssystem tendenziell eher links positioniert

Die Studie zeigt weiter, dass das deutsche Wissenschaftssystem tendenziell eher links positioniert ist. Nur etwa jeder zehnte Wissenschaftler verortet sich rechts der Mitte. 53,4 Prozent gaben an, in der Mitte der politischen Landschaft zu stehen, 37,6 Prozent links der Mitte.

29 Prozent der Befragten sprechen sich außerdem dafür aus, die Verweigerung gendersensibler Sprache zu verbieten. Interessanterweise herrscht jedoch bei der Ablehnung Israels als Staat parteiübergreifend Einigkeit: Sowohl linke als auch konservative Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen finden mehrheitlich, dass dies nicht erlaubt sein sollte.

Das Fazit der Studienautoren: Die repräsentative Befragung zeige, dass Einschränkungen der akademischen Redefreiheit an deutschen Hochschulen kein flächendeckendes Problem darstellen.

Die Mehrheit der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sehe ihre Forschungs- und Lehrfreiheit als gesichert an und habe keine negativen Erfahrungen gemacht. Allerdings seien Einschränkungen kein reines Randphänomen, da einige Befragte von moralischer Diskreditierung und beruflichen Problemen berichten.

Diese Erfahrungen variierten je nach Status, Fach und Geschlecht. Zudem zeige die Studie, dass es unterschiedliche Meinungen darüber gibt, welche Themen in den Diskurs an Hochschulen einfließen sollten, insbesondere bei gesellschaftlich umstrittenen Themen wie Embryonenforschung oder Klimawandel, so die Autoren.