Es ist noch schlimmer

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Autoritäten sind selten geworden, umso größer ist die Sehnsucht nach ihnen. Wenn täglich neue Gemeinheiten von Diktatoren, Betrügereien von Firmen, Schweinereien von Kirchenmännern und Lügen von Promifritzen ans Licht kommen, wünschen sich viele Leute umso dringender untadelige Persönlichkeiten. Menschen, zu denen sie aufschauen und an denen sie sich aufrichten können. Hält man ja sonst nicht aus, das Krisentrommelfeuer.

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Politiker müssen nicht perfekt sein, aber als Vorbilder sollten sie schon taugen. Sie dürfen über die Lebensbedingungen der Bürger entscheiden. Sie schmieden Gesetze, erlassen Verordnungen oder machen Gegenvorschläge. Sie verteilen Steuergeld und werden selbst davon bezahlt. Sie treffen wichtige Leute und dürfen sich selbst wichtig fühlen. Sie reden von morgens bis abends und dann in den Talkshows einfach weiter. Ein anstrengender, aber auch ein privilegierter Job.

Politiker haben ihre Ämter und Mandate aber nicht gepachtet. Sie besetzen sie, um dem Volk zu dienen, nicht ihren eigenen Interessen. Ein hoher Anspruch, aber so muss es sein in der Demokratie. Eine besondere Eigenschaft ist dabei unverzichtbar: Demut. Man nimmt das Wohl der Bevölkerung wichtiger als sich selbst, man sucht Fehler erst bei sich, bevor man andere kritisiert, man bemüht sich um Aufrichtigkeit, weil schon genug Lügen die Debatten vergiften. Was man sicher nicht macht: rumdrucksen, wenn man Mist gebaut hat, Erinnerungslücken vortäuschen, um eigene Fehler zu verschleiern, Skandale unter den Teppich kehren. Nein, Fehler gesteht man ein, bereut, gelobt Besserung und müht sich nach Kräften, künftig bessere Arbeit abzuliefern.

Bevor Sie jetzt denken, ich sei heute Morgen gar nicht aufgewacht, sondern träume einfach weiter, schiebe ich schnell noch hinterher: Diese Beschreibung ist natürlich ein Ideal. Und wie das so ist bei Idealen, bleibt die Realität dahinter zurück, erst recht im harten Politikgeschäft. Trotzdem muss man sich einmal vergegenwärtigen, was Bürger von demokratischen Politikern erwarten dürfen, um das Ausmaß der gegenwärtigen Diskrepanz zu begreifen.

Was Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck in diesen Tagen veranstalten, schrammt nicht etwa haarscharf am Ideal eines Politikers vorbei. Es ist schlimmer: Sie verkörpern das Gegenteil. Wie die drei Ampel-Häuptlinge auf die Ohrfeige der Verfassungsrichter reagieren, macht viele Bürger sprachlos: Ausreden, Ausflüchte, Ablenkungsmanöver. Höhepunkt der Tarnkappen-Taktik war die gestrige Regierungserklärung des Bundeskanzlers. "Eigentlich eine Möglichkeit für Olaf Scholz, das Haushaltschaos zu erklären und sich zu entschuldigen. Doch statt Einsicht lieferte der Kanzler wieder einmal nur Besserwisserei", kommentiert unsere Chefreporterin Sara Sievert. "Es war der Gipfel der Arroganz."

Video | Scholz: Urteil verändert Haushaltsführung grundlegend
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Quelle: Reuters

Mit ihrer Uneinsichtigkeit richten die drei von der Ampel einen Schaden an, der weit über das klaffende Haushaltsloch hinausgeht. Sie zerstören willentlich Vertrauen in politische Autoritäten. Während Bürger bei jedem Fehltritt vom Knöllchen bis zum Schwarzfahren mit Strafe rechnen müssen, sehen sie entgeistert, wie die Regierenden vor sich hin dilettieren, ohne ihr Gemüt mit Schuldbewusstsein zu belasten.

Warum tun die das? Vielleicht wird man so, wenn man zu lange um sich selbst kreist. Wobei: Auch Angela Merkel hatte eine hohe Meinung von sich selbst, besaß zugleich aber ein feines Gespür dafür, wann Politiker überheblich wirkten. Dann griff sie ein, mal entwand sie einem selbstbesoffenen Generalsekretär ein Deutschlandfähnchen, mal entschuldigte sie sich vor der ganzen Nation für eine verkorkste Corona-Osterruhe.

Olaf Scholz ist anders. Er hält sich erkennbar für den Klügsten. Er hat alles schon durchdacht, bevor andere auf den Trichter kommen. Er ist überlegen und lässt es andere spüren. Das ging so lange gut, wie er die Lage im Griff hatte (oder zumindest den Anschein erweckte). Schaut man jedoch unter den Scholz'schen Teppich, findet man seine politischen Leichen. Die größte ist sein erstaunlich nachlässiger Umgang mit Steuergeld:

  • Das Cum-Ex-Drama um die Warburg-Bank beschäftigt Hamburg seit Jahren. In der Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses geht es heute zum x-ten Mal um die Winkelzüge des damaligen Bürgermeisters Scholz.
  • Noch lauter stöhnt man in der Hansestadt über die zweite Scholz'sche Leiche: Das vermeintliche Prestigeprojekt Elbtower, vom Genossen Olaf damals unbedingt gewollt, droht nach der Pleite des Immobilienschiebers René Benko zum Großskandal zu eskalieren.
  • Und wie war das damals beim G20-Gipfel, den Scholz mit dem Hafengeburtstag verglich, bevor er zusah, wie Linksradikale die Innenstadt anzündeten?
  • Und nun blamiert er die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt durch eine illegale Finanzplanung, in der sich als "Bazookas" und "Doppel-Wumms" verniedlichte Milliardengräber als Kamikaze-Aktionen entpuppen.

Die Stunde der Wahrheit ist der Moment, in dem die Trickserei sich gegen ihren Erfinder wendet. Deshalb ist Olaf Scholz nun der unbeliebteste Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik; in der jüngsten Umfrage rangiert er gerade mal noch einen Platz vor dem AfD-Beller Tino Chrupalla. Ein beispielloser Absturz, den auch die Apologeten im Kanzleramt nicht mehr schönreden können. In einer nicht repräsentativen Umfrage unter t-online-Lesern spricht sich die überwältigende Mehrheit der fast 30.000 Teilnehmer für Neuwahlen aus.

Es ist bitter, aber man muss es leider so sagen: In der deutschen Regierungszentrale sitzt niemand mehr, zu dem die Bürger aufschauen, dem sie vertrauen können, der eine moralische Autorität verkörpert. Diese Leerstelle kann Deutschland in den kommenden Monaten stärker schaden als jeder Haushaltstrick.


Ohrenschmaus

Heute Nachmittag wird der traditionelle Weihnachtsbaum im Bundeskanzleramt aufgestellt. Ein schöner Anlass für den Hausherrn, in sich zu gehen und ein wenig Demut zu zeigen.


Noch ein Knall aus Karlsruhe?

Während die Politik immer noch über das Karlsruher Haushaltsurteil diskutiert, steht schon die nächste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an: Heute urteilen die Richter über die 2020 von der Großen Koalition beschlossene Reform des Bundestagswahlrechts. Auf den ersten Blick mag das absurd anmuten, schließlich hat die aktuell amtierende Ampelkoalition im März dieses Jahres ihrerseits eine Wahlrechtsnovelle durchgesetzt, die zur dauerhaften Verkleinerung des aus allen Nähten platzenden Bundestags führen soll. In diesem Zuge hatten die vorherigen Oppositionsparteien Grüne und FDP, die damals gegen das Groko-Gesetz geklagt hatten, denn auch beantragt, das Verfahren in Karlsruhe ruhen zu lassen – sich von dem Gericht aber eine Abfuhr eingefangen. Es gebe immer noch ein großes Interesse festzustellen, ob die aktuellen Bundestagsabgeordneten auf Grundlage eines rechtmäßigen Wahlgesetzes gewählt wurden, verkündete Vizepräsidentin Doris König. Zum anderen kann das Urteil auch für eine mögliche Wiederholung der Bundestagswahl in den Berliner Chaos-Wahlbezirken relevant werden.