Tödlicher Anschlag auf Weihnachtsmarkt - „Gefährlichkeit nicht korrekt eingeschätzt“: Harte Vorwürfe nach Terror von Magdeburg

FOCUS online: Herr Striegel, sechs Menschen starben durch die Todesfahrt des saudi-arabischen Migranten Taleb A., 50, auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt, weitere Hunderte Besucher wurden teils schwer verletzt. Offenkundig war der Anschlag durch den psychisch gestörten Arzt nur durch eklatante Fehler der Sicherheitsbehörden und der Stadt Magdeburg möglich. Doch die Verantwortlichen mauern bisher, wenn es um die Wahrheit geht. Welche Fragen sind noch ungeklärt?

Striegel: Im Kern geht es um drei Punkte. Erstens: Taleb A. ist über Jahre hinweg wegen seiner Drohungen bei Sicherheitsbehörden, Polizei und Justiz aufgefallen. Zweitens: Das Sicherheitskonzept für den Magdeburger Weihnachtsmarkt, das vom kommunalen Veranstalter aufgestellt und durch die Stadt selbst genehmigt wurde. Drittens: Die tatsächliche Absicherung des Weihnachtsmarktes am Tatabend, durch Polizei und Veranstalter.

Laut einem neuen geheimen Bericht des Bundeskriminalamts (BKA), der im Innenausschuss des Bundestages vorgestellt wurde, sind seit 2013 exakt 105 Vorgänge in sechs Bundesländern sowie 14 Ermittlungsverfahren aktenkundig. Die Briten sowie Kuwait und Saudi-Arabien warnten die hiesigen Staatsschützer laut dem SPIEGEL vor Straftaten. Im Laufe der Zeit wandelte sich Taleb A. zu einem gewaltbereiten, islamfeindlichen Fanatiker, der sich immer mehr in einer kruden Verschwörungswelt verfing.

Taleb A. war behördenbekannt. Er hatte eine große Anzahl an Behördenkontakten, war Vielschreiber und Anzeigenerstatter. Und die über ihn gewonnenen Informationen sind in den letzten Jahren regelmäßig auch bei der für ihn an seinem Wohnsitz und Arbeitsplatz zuständigen Polizei in Sachsen-Anhalt gelandet. Dennoch bleibt unklar, was das für die Beurteilung seiner Gefährlichkeit zuständige Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt über ihn im Detail wusste. Und warum man seinen Radikalisierungsweg nicht erkannte.

„Fiel durchs Raster, weil er nicht ins typische Schema passte“

Wie erklärt sich diese Fehlprognose?

Wie gesagt, an Hinweisen hat es nicht gemangelt. Aus der Chronik des Bundesinnenministeriums ergibt sich das Bild einer sich verstärkenden Radikalisierung und Emotionalisierung ab dem Jahr 2023. Da häufen sich öffentliche Drohungen und Hinweise auf Gefährlichkeit, die dann ja auch in Gefährderansprachen und Ermittlungen mündeten. Taleb A. verschickte da immer mehr wirre Nachrichten an diverse Empfänger und äußerte sich auch öffentlich.

Mehrfach soll der Arzt krude Botschaften an das Bundesinnenministerium versendet haben. So drohte er im Februar 2023 damit, 20 Leute auf den Straßen von Berlin zu töten, um Gerechtigkeit zu bekommen. Saudi-Arabien informierte den Bundesnachrichtendienst über einen X-Eintrag des anerkannten Asylanten, der ankündigte, dass etwas Großes passieren müsse. Das LKA Sachsen-Anhalt konnte jedoch keine Hinweise auf eine extremistische islamistische Gesinnung erkennen.

Das ist ja die Crux, offenbar ist seine Gefährlichkeit nicht korrekt eingeschätzt worden, wohl weil er das krasse Gegenteil eines Islamisten war. Er hasste Muslime und den Islam, biederte sich Rechtsextremen an. Er fiel durchs Raster, weil er nicht in das typische Schema passte. Und dies hängt offenbar damit zusammen, dass entsprechende Informationsstränge nicht zusammengeführt und bewertet wurden.

Haben die Sicherheitsbehörden Dinge übersehen?

Es ist noch zu früh, endgültige Schlüsse zu ziehen. Aber Fakt ist, dass Ende 2023 gegen Taleb A. wegen seiner radikalen Tweets ermittelt wurde. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren dann ein, weil sie keine strafrechtliche Relevanz sah. Aus meiner Sicht ergaben sich hier aber schon Hinweise, dass da jemand mit Gewaltpotenzial unterwegs ist. In jener Zeit hatte der Arzt für Psychiatrie auf Twitter (heute X, die Red.) sein Profilbild dahingehend verändert, dass er fortan mit einem Sturmgewehr posierte. In der Gesamtschau muss man konstatieren, dass der Radikalisierungsprozess weit fortgeschritten war. Wie gesagt, da steht die Frage im Raum, warum das LKA Sachsen-Anhalt diese Alarmsignale nicht erkannt hat?

Wenn ein Islamist mit so einem Profil in den sozialen Netzwerken hausieren ginge, säße der längst in Untersuchungshaft, oder nicht?

Für Untersuchungshaft braucht es strafbare Handlungen und einen Haftgrund, den sehe ich aus den damaligen Erkenntnissen nicht. Für Gefahrenabwehr ist trotzdem die Polizei zuständig. Und hier scheint man Warnsignale nebst entsprechenden Informationen nicht so verdichtet zu haben, dass man erkennen konnte: Der Mann ist gefährlich.

Grünen-Politiker fordert zügige und volle Aufklärung

Offenbar mauern die Verantwortlichen der Stadt Magdeburg, der Polizei, im LKA sowie die CDU-Innenministerin Tamara Zieschang oder schieben den schwarzen Peter hin und her, wenn es um die Sicherheitslücken geht, die den tödlichen Anschlag erst ermöglichten. Welchen Eindruck haben Sie als Oppositionspolitiker gewonnen?

Klar ist, wir brauchen umfassende Aufklärung in dem Fall, das sind wir den Anschlagsopfern und ihren Angehörigen schuldig. Das muss jetzt zügig geschehen. Informationen, auch zu den politischen Beteiligten, müssen auf den Tisch. Das ewige Ping-Pong-Spiel muss aufhören. Und: Wir brauchen endlich den Willen in der Landesregierung, bei der Stadt und der Polizei Verantwortung für das zu übernehmen, was schiefgelaufen ist. Sicherheit ist eine gemeinsame Aufgabe von Stadt, Land und Bund.

Wo hat etwa die Stadtverwaltung Magdeburg als Veranstalter des Weihnachtsmarktes und Genehmigungsbehörde versagt?

Das Sicherheitskonzept der Stadt war völlig unzureichend. Dazu kommt, dass selbst die im Papier vorgesehenen Schutzmaßnahmen teilweise nicht umgesetzt wurden. So fehlten an manchen neuralgischen Punkten Sperren. Auch war nicht nur jene Rettungsgasse nicht geschützt, durch die der Todesfahrer in den Weihnachtsmarkt rasen konnte, auch andere Zufahrten blieben offen. Es gab keine Poller, keine physischen Hindernisse, um die Fahrt eines solchen Täters zu verlangsamen. Die Verantwortlichen haben dies zugelassen, obwohl sie durch die Terrorwarnungen über mögliche Angriffe auf Weihnachtsmärkte anders hätten handeln müssen. Spätestens seit dem Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 mit elf Toten hätten die Sicherheitsmaßnahmen an die neuen Herausforderungen angepasst werden müssen. Dies ist nicht geschehen.

Zudem sollten Polizeitransporter die Einfahrt in die Rettungsgasse versperren, die Taleb A. nutzte. Warum ist das nicht geschehen?

Dazu kann ich noch keine abschließende Aussage treffen. Allerdings ist jetzt schon klar, dass Polizeifahrzeuge auch andere Zufahrten nicht als mobile Sperre geschützt haben. Das heißt: Es gab eine schon im Konzept unzureichende Sicherung des Weihnachtsmarktes. Fragt sich, ob die Polizei sich mit der Stadt über dieses Problem im Vorfeld ausgetauscht hat? Es gab vier Termine, an denen auch die Polizei teilgenommen hatte. Bisher wissen wir nicht, ob die Sicherheitsprobleme dort angesprochen wurden. Es hat auch eine Begehung der Örtlichkeit stattgefunden. Sind da Sicherheitsmängel aufgefallen und thematisiert worden? Bisher hat die Landesregierung die Herausgabe der Akten zu diesen Terminen verweigert.

Warum hält die Innenministerin diese Informationen immer noch unter Verschluss?

Darüber kann ich nur spekulieren. Die parlamentarischen Auskunftsrechte bestehen. Insofern erwarte ich die Herausgabe auch der angeforderten Akten. Ich höre von Menschen sehr deutlich, dass sie sich außerdem wünschen, dass Fehler eingestanden werden – bei den für Sicherheit Verantwortlichen. Das betrifft auch die CDU-Innenministerin. Da kann sich niemand bei staatlichen Stellen an die Seite stellen und sagen, damit habe ich nichts zu tun.

Es muss doch einen Polizeiführer gegeben haben, der die Sicherheitsmaßnahmen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt steuerte. Das war doch keine Kinderkirmes?

Ich sehe die Verantwortung für diesen schrecklichen Anschlag nicht bei einem einzelnen Polizeiführer. Da ist systematisch etwas schiefgegangen. Das kann kein einzelner Beamter ausputzen. In der kommenden Woche wird ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt, der die Vorgänge um den Attentäter als auch die Sicherheitslücken durchleuchten soll. Allerdings besteht hier das Problem, dass die schwarz-rot-gelben Regierungsfraktionen mit ihrer Mehrheit im Landtag die Untersuchung lenken. Das reicht von der Vorladung von Zeugen und der Anforderung von Beweismaterial bis hin zum Untersuchungsinhalt. Deshalb werden wir Grünen stark darauf achten, dass ehrlich aufgeklärt wird und nicht zugunsten parteipolitischer Interessen der Regierungskoalition Dinge unter den Teppich fallen.