Keine Schlagkraft, keine Wahlkampfthemen - Um die Partei zu retten, muss die neue Grünen-Spitze fünf Probleme lösen
Felix Banaszak wirkt ehrlich überrascht: „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet“, sagt der 35-Jährige über sein Wahlergebnis zum neuen Grünen-Chef. 92,9 Prozent der Delegierten stimmten für den Parteilinken – trotz vier Gegenkandidaten. Gemeinsam mit Franziska Brantner, die sich mit 78,2 Prozent gegen eine Basiskandidatin durchsetzte, wird er in Zukunft die Partei anführen.
Die Wahl der beiden Bundestagsabgeordneten auf dem Parteitag in Wiesbaden war jedoch die kleinste Herausforderung für Brantner und Banaszak. Nach der Niederlagenserie in Europa, Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist die Partei tief verunsichert.
Nun drängt die Zeit. Drei Monate vor der vorgezogenen Bundestagswahl liegen die Grünen noch immer nur bei zehn bis zwölf Prozent. Eine erneute Regierungsbeteiligung ist akut gefährdet. 99 Tage bleiben Brantner und Banaszak, um die Stimmung zu drehen.
„Make Green great again“, warb Brantner in ihrer Bewerbungsrede. Dafür müssen sich die beiden neuen Vorsitzenden jedoch vor allem fünf zentralen Problemen stellen.
1. Soziale Frage stärker betonen
Die Grünen hätten zeitweise die Deutungshoheit über sich selbst verloren, konstatiert Ricarda Lang bei ihrem Abschied als Parteichefin. „Wir haben ein paar Fehler gemacht, die es sehr leicht gemacht haben, uns in die ideologische Ecke zu stellen.“
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Das gilt insbesondere für das Heizungsgesetz des designierten Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Von der Pflicht, beim Heizungstausch auf erneuerbare Energien zu setzen, fühlten sich viele Hausbesitzer überfordert – auch weil Wirtschaftsminister Habeck, nachdem der Gesetzentwurf bekannt wurde, lange kein begleitendes Förderkonzept vorstellte.
Doch auch die Rhetorik der Grünen lässt sie oft abgehoben erscheinen, machte Lang deutlich: „Wenn Menschen mit wenig Geld weiter Diesel fahren oder billiges Fleisch kaufen, heißt das nicht, dass ihnen Klimaschutz egal ist, sondern dann treffen sie rationale Entscheidungen.“ Es sei paternalistischer Quatsch, armen Menschen Klimaschutz zu erklären, so Lang.
Die Grünen haben sich offensichtlich vorgenommen, soziale Probleme stärker anzusprechen. Am Freitagabend wünschte sich Außenministerin Annalena Baerbock eine Döner-Preisbremse. Um steigende Preise zu bekämpfen, will die Partei mit einer Reduktion der Netzentgelte die Strompreise senken, die Mietpreisbremse und das 49-Euro-Ticket erhalten. Von einer ausgefeilten Sozialpolitik ist die Partei allerdings weit entfernt.
2. Gegen Fake News wehren
Viele Grüne blicken mit Sorge auf den Winterwahlkampf mit seinen kurzen Tagen. „Wir können doch nicht in der Dunkelheit Wahlplakate aufhängen“, sagt eine Grüne aus dem Osten mit Blick auf die Sicherheit. Im vergangenen Jahr sind der Hass und die Gewalt gegen die Grünen häufig eskaliert. Beleidigungen, Attacken am Wahlkampfstand, Pfeiffkonzerte bei Veranstaltungen.
Und auch im Internet kursieren allerlei Fake News und Hass über die Grünen. „Wir haben immer noch kein Rezept, wie wir mit hinterhältigen Angriffen auf uns umgehen“, erklärte am Freitag die frühere Bundesgeschäftsführerin Emily Büning.
In ihrer Parteizentrale haben die Grünen Personal aufgestockt, um Hassbotschaften im Netz zu beobachten. Gehen Falschmeldungen viral, will man schneller reagieren. Eine weitere Erkenntnis: die Grünen müssen noch deutlich mehr Videos und Posts absetzen, um ihre eigenen Botschaften zu verbreiten.
3. Mit einer Stimme sprechen
Seit einigen Tagen kursiert ein unfertiges Organigramm der neuen Parteizentrale, das das Dilemma der Grünen deutlich zeigt. Dort sind die Entscheidungsstrukturen der Partei aufgezeichnet und man braucht eine Weile, um diese zu verstehen.
Denn neben dem sechsköpfigen Bundesvorstand gibt es auch die Sechserrunde der beiden Parteichefs, der Fraktionschefs und den Ministern Habeck und Baerbock. Auch eine Neuner- und eine Fünferrunde gibt es, dazu einen Wahlkampfstab, ein externes Beratungsgremium. Und neben allem: Robert Habeck.
Wochenlang hat Habeck intern und öffentlich deutlich gemacht, dass er sich Beinfreiheit für seine Kanzlerkandidatur wünscht. „Jeder muss seine Laufwege kennen“, sagte er bereits vor Wochen. Doch das Organigramm weckt die Befürchtungen, dass im Wahlkampf zu viele Grüne mitreden wollen.
Gerade im Wahlkampf muss die Partei mit einer Stimme sprechen – der von Robert Habeck. Die neuen Parteivorsitzenden müssen dafür sorgen, dass die Störfeuer sich gar nicht erst entzünden.
4. Zwischen den Flügeln vermitteln
Man werde ein kurzes, aber prägnantes Wahlprogramm vorlegen, hieß es schon in den vergangenen Tagen aus der Parteizentrale. Wie das aussieht, ist aber selbst vielen Grünen noch völlig unklar. Zumal die Basis unzählige Wünsche und Projekte hat, die sie gerne in das Programm hineinverhandeln will.
„Wir kämpfen dafür, dass der Klimaschutz nicht rückabgewickelt wird“, sagte Robert Habeck am ersten Abend des Parteitages. Baerbock setzte dagegen auch Impulse beim Thema soziale Gerechtigkeit. Am Ende wird es wohl beides geben. In der Migrationspolitik stehen sich die Flügel der Partei frontal gegenüber: mehr Regulierung gegen mehr Menschlichkeit. Auf Banaszak und Brantner dürfte viel Vermittlungsarbeit zukommen.
Und auch in der Wirtschaftspolitik – eigentlich dem Steckenpferd der neuen Vorsitzenden – haben die Grünen bislang eine inhaltliche Leerstelle. Nur wenige Wochen bleiben den neuen Parteivorsitzenden, um ein klares Programm zu erarbeiten.
5. Klares Wahlkampfthema finden
Fast hätte die Union den Grünen ein Wahlkampfthema geschenkt. Doch nach einigen Tagen der Unklarheit gaben CDU und CSU ihr Veto gegen die Finanzierung des Deutschlandtickets auf – zum heimlichen Bedauern von so manchem Grünen. Mehr als 13 Millionen Mal hat sich das Ticket verkauft und ist vermutlich die beliebteste Maßnahme der Ampel.
So grübelt man bei den Grünen, welchen Wahlkampfhit man aus der Tasche zaubern könnte. Gesucht wird ein Alleinstellungsmerkmal, das die eigene Klientel mobilisiert, aber auch breitere Wählergruppen anspricht.
Die Forderung einer Milliardärssteuer, die von Wahlkampfleiter Andreas Audretsch kürzlich präsentiert wurde, dürfte dafür nicht das Zeug haben.
Von Felix Hackenbruch, Caspar Schwietering
Das Original zu diesem Beitrag "Keine Schlagkraft, keine Wahlkampfthemen: Vor diesen fünf Herausforderungen steht die neue Grünen-Spitze" stammt von Tagesspiegel.