Sozialforscher Andreas Herteux - Psychologie der Massen: Warum Überzeugen schwerer, aber Beeinflussen leichter ist

Die zersplitterte Gesellschaft

Der Druck des globalen Zeitenwandels, der nun schon weit über ein Jahrzehnt wirkt, hat die westlichen Gesellschaften zersplittern lassen. Entstanden sind viele kleinere Lebenswirklichkeiten mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Normen und Verhaltensmustern, die sich teilweise erbittert in ihren Gegensätzen gegenüberstehen und verhärtete Milieukämpfe ausfechten. Klingt kompliziert? Ist es aber nicht, wenn Beispiele herangezogen werden.

12 Prozent der Menschen in Deutschland rechnet man dem postmateriellen Milieu zu. Dieses hat es wirtschaftlich geschafft, lebt urban, wählt nicht selten grün und steht für ein globales Denken, Identitätspolitik, Post-Wachstum, Diversität und Wokeness. Es hat ein hohes Sendungsbewusstsein, die Lebensweisen aller auf die richtige Art und Weise zu beeinflussen. Vermutlich ist es nicht schwierig zu erahnen, warum diese Lebenswirklichkeiten beispielsweise mit den Konsum-Hedonisten (8 Prozent), die in erster Linie Spaß suchen, oder dem traditionellen Milieu (9 Prozent) in Konflikt geraten könnten.

Und so setzt sich das fort. Kompliziert wird das Ganze noch durch die angesprochenen technologischen Individualisierungstreiber, aber auch durch Migrationsbewegungen. Diese lassen das Bestehende immer weiter zerbröseln und letztendlich wissen wir gar nicht mehr sicher, welche Lebenswirklichkeiten es im Moment noch so genau gibt. Die Fragmentierung ist vermutlich weiter fortgeschritten, als wir es erahnen. Was ich aber nicht kenne, kann ich auch nicht beeinflussen oder gar beherrschen.

Wie beeinflusst man eine fragmentierte Gesellschaft?

Springen wir noch einmal zurück zu Le Bon. Dieser hat einen ganz interessanten Tipp für den Umgang mit Lebenswirklichkeiten, die er noch Massen nennt: „Welche Ideen den Massen auch suggeriert werden mögen, zur Wirkung können sie nur kommen, wenn sie in sehr einfacher Form aufzunehmen sind und sich in ihrem Geist in bildhafter Erscheinung widerspiegeln.“

Davon abgesehen, dass der französische Forscher an dieser Stelle schon die Systemlogik von David Kahnemann (1934–2024) vorwegnimmt, beginnen bereits hier die Schwierigkeiten unserer komplexen Zeit, denn jede Botschaft wird von jedem Milieu mit dessen individuellen Normen und Interessen abgeglichen.

Nehmen wir als Beispiele Maßnahmen zum Klimaschutz, die Einschränkungen von den Bürgern verlangen. Diese werden bei den Neo-Ökologischen (8 Prozent) sicher auf Begeisterung treffen, die Nostalgisch-Bürgerlichen (11 Prozent) empfinden derartiges wohl eher als Gängelung und Kampfansage. Spätestens seit dem Internetzeitalter sind die Kommunikationswege so mannigfaltig, dass auch eine Limitierung nicht mehr denkbar wäre: Jedes Framing, jedes Priming, um auch die etwas moderneren Begrifflichkeiten erwähnt zu haben, kann manche Gruppe in die gewünschte Richtung treiben, wird wohl aber auch andere vergrätzen.

Auf die Richtigkeit kommt es niemals an

Ob nicht, wie es in der Demokratie sein sollte, am Ende nicht doch das bessere Argument gewinnt? Auch hier gibt Le Bon bereits die ernüchternde Antwort: „Man darf nicht glauben, eine Idee könne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen. Man wird davon überzeugt, wenn man sieht, wie wenig Einfluss die klarste Beweisführung auf die Mehrzahl der Menschen hat. Der unumstößliche Beweis kann von einem geübten Zuhörer aufgenommen worden sein, aber das Unbewusste in ihm wird ihn schnell zu seinen ursprünglichen Anschauungen zurückführen.“

Das machte die Sache vor über hundert Jahren nicht einfacher, und das gilt leider auch für die heutige Zeit. Zudem ist Politik grau und nicht schwarz oder weiß.

Wie den demokratischen Diskurs erhalten?

Das mag für jene mit großen Überzeugungen von der Richtigkeit der eigenen Sache bitter klingen, und doch liegt der Schlüssel, den demokratischen Diskurs zu erhalten, darin, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist. Demokratien nähren sich vom Diskurs, nicht vom Diktat und doch dominieren heute Milieukämpfe, welche die Debatte verhindern und zu verhärteten Fronten geführt haben.

Gerade in einer Epoche des globalen Zeitenwandels stellt dies eine fatale Entwicklung dar. Alles wird neu ausgewürfelt. Global, national, lokal. Die Sicherheit ist weg, die Fehler – und im politischen Bereich stellen sie ein Epos dar – wurden gemacht. Es war nicht der Zeitenwandel, der den Glauben der Bürger in die bestehende Ordnung erschüttern ließ; es waren vielmehr auch die eigenen, vermeidbaren Unzulänglichkeiten.

Das bedeutet für Demokraten zweierlei: Einerseits das stetige Bemühen darum, einen gemeinsamen und einenden Rahmen aufrechtzuerhalten, der die Starre durchbrechen muss und für ihn zu kämpfen – etwas Einfaches, an das alle, trotz ihrer Unterschiede, gleichermaßen glauben können, das Sicherheit gibt und über einen reinen Verfassungspatriotismus hinausgeht. Ohne diesen Rahmen zerreißt das zarte Band des Gemeinsamen. Dieses ist schwach geworden und braucht eine Neuorientierung. Es bedarf eines neuen gesamtgesellschaftlichen Konsenses, wer wir sind und wer wir sein wollen.

Menschen abholen, wo sie stehen

Andererseits ist eine zielgruppengerechte Ansprache unabdingbar, um die Menschen noch erreichen zu können. Dafür sollten sich alle demokratischen Kräfte von der Illusion verabschieden, dass alle Milieus noch mit den alten Medien erreichbar sind. Nein, die Botschaften werden nicht mehr um 20:00 Uhr ins Wohnzimmer getragen, sondern die Menschen müssen dort abgeholt werden, wo sie sich befinden – heute weitaus häufiger im Netz als auf dem Sofa vor dem Fernseher oder bei der Zeitung am Küchentisch. Es ist auch kein Markt mehr, in dem das Angebot bestimmt. Es ist längst einer der Nachfrage. Auch diese Erkenntnis sollte inzwischen angekommen sein.

Was wird geschehen? Feinde einer freiheitlich-demokratischen Ordnung werden versuchen, die besagte Neuordnung des Rahmens zu verhindern und sich darum bemühen, das lebenswirklichkeitsgerechte Marketing zu intensivieren. Ersteres müssen sie, um zu wachsen, und bei Letzterem sind sie im Moment schlicht besser. Auch eine unangenehme Wahrheit, die zu denken geben sollte.

Was bleibt? Letztendlich eine Erkenntnis: Menschen sind heute leichter beeinflussbar als jemals zuvor in der Geschichte. Allerdings waren sie auch noch nie so schwer zu überzeugen.