Nach Einsatz von ATACMS-Raketen - Medwedew droht mit „Drittem Weltkrieg“ – Militärexperten haben dazu klare Meinung
Die Ukraine hat nach der Genehmigung durch US-Präsident Joe Biden erstmals russisches Territorium mit von den USA gelieferten ATACMS-Raketen beschossen. Der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha sieht in der nun erfolgten US-Erlaubnis zum Einsatz solcher Raketen einen möglichen „game changer“.
„Dritter Weltkrieg“: Nach ATACMS-Einsatz drohen Medwedew und Lawrow scharf
Reaktionen auf den Angriff aus dem Kreml folgten prompt - und die haben es in sich.
So droht Ex-Präsident Dmitri Medwedew der Nato nun mit einem harten Gegenschlag: „Russlands neue Doktrin besagt, dass Nato-Raketen, die auf unser Gebiet abgefeuert werden, als Angriff der Nato auf Russland gesehen werden können. Russland könnte mit Massenvernichtungswaffen auf Kiew zurückschlagen - oder auch Nato-Einrichtungen angreifen, wo immer diese sich befinden.“ Das bedeute „den Dritten Weltkrieg“, so Medwedew, der seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs immer wieder mit sehr scharfer Rhetorik aufgefallen ist.
Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow meldet sich zu Wort und verweist auf die neue russische Atomdoktrin. „Wir haben heute die Grundlagen der Atomdoktrin offiziell veröffentlicht, dort ist alles bestätigt und schon gesetzlich verankert, was der Präsident (Wladimir Putin) vor etwas mehr als einem Monat öffentlich gesagt hat“, sagte Lawrow bei einer Pressekonferenz am Rande des G20-Gipfels in Rio de Janeiro. „Und ich hoffe, dass sie dort (im Westen) diese Doktrin lesen werden“, sagte er weiter.
Putins neue Atomwaffendoktrin
Hintergrund: In der neuen Fassung der russischen Atomdoktrin heißt es, dass Moskau die Aggression eines nichtnuklearen Staates, der aber von Atommächten unterstützt wird, als deren gemeinsamen Angriff auf Russland wertet.
Müssen die Ukraine und Nato-Staaten nun also mit einem nuklearen Gegenschlag rechnen?
Militärexperte Albert Stahel winkt ab. Bidens Freigabe und der nun erfolgte Einsatz der ATACMS-Raketen werden seiner Meinung nach nicht zu einer Eskalation führen - schon gar nicht zu einer nuklearen. „Kein Staat kann einen Atomkrieg gewinnen. Der Einsatz von Nuklearwaffen würde in einer zerstörten Welt enden. Das weiß auch Putin“, so Stahel im Gespräch mit FOCUS online.
„Würde er die Nato nuklear angreifen, würde er sich selbst vernichten“
Politikwissenschaftler Gustav Gressel, spezialisiert auf sicherheitspolitische und militärstrategische Fragen mit Fokus auf Osteuropa und Russland, sieht das ähnlich: „Putin kann nicht gleichzeitig Krieg gegen die Ukraine und die Nato führen.“ Er müsste erst in der Ukraine siegen, bevor er sich anderen Feinden zuwenden kann, meint der Experte. „Würde er die Nato nuklear angreifen, würde er sich selbst vernichten.“
Das gelte allerdings nur, solange die Nato geschlossen und intakt ist. Das könne sich jedoch mit Trump ändern. Aber selbst dann hält Gressel einen Einsatz für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher werde dann aber, „dass Russland nukleare Drohungen offensiver einsetzt, um die Europäer einzuschüchtern“.
Putins „Drohung mit Atomwaffen ist dumm und hohl“
Im Verlauf des Ukraine-Kriegs, der bald drei Jahre andauert, hat der Kreml immer wieder rote Linien gezogen und bei deren Überschreitung mit Atomschlägen gedroht. Diese seien jedoch in diesem unseligen Krieg mehrfach überschritten worden, sagt Stahel.
„Auch Putin und seine Kumpel dürften einen nuklearen Winter vermeiden wollen. Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen ist dumm und hohl“, so der Experte. Die Drohungen seien „nur Geschwätz”.
Gressel meint: „Wir haben diesen roten Linien selbst Geltung verschafft, indem wir uns ehrfurchtsvoll davor verneigt haben.“ Und Militärexperte Wolfgang Richter betont: „Wenn es sich um Ziele handelt, die das strategisch-nukleare Gleichgewicht zwischen den USA und Russland antasten, wäre die rote Linie für Moskau wohl erreicht.“
Folgen des ATACMS-Einsatzes für Kriegsverlauf und Friedensverhandlungen
Gleichwohl sind die Folgen des nun möglich gewordenen Einsatzes von ATACMS-Raketen durch die Ukraine enorm. Das sieht auch der Militärexperte Albert Stahel so: „Die Freigabe der ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern gegen militärische Ziele auf russischem Territorium könnte den weiteren Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen“, sagt der Schweizer Politikwissenschaftler.
An der Front werden die Russen damit zunächst eingeschränkt. Russland dürfte ab sofort keine Kampfflugzeuge mehr in Frontnähe einsetzen können, sagt Stahel. Auch ihre Stellungen mit Boden-Boden-Raketen Iskander, die eine Reichweite von 500 Kilometern haben, werden die Russen nun wohl zurückziehen müssen, um sie vor den Ukrainern zu schützen. „Die Intensität der russischen Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur könnte abnehmen“, meint Stahel.
Neben diesen kurzfristigen Auswirkungen könnte das ATACMS-Go auch grundsätzliche strategische Folgen haben. Die Freigabe der Waffen hat laut Militärexperte Wolfgang Richter auch Einfluss auf mögliche Friedensverhandlungen. „Die USA wollen mit der Freigabe Angriffe auf Ziele tief in Russland, aber auch auf nordkoreanische Truppen ermöglichen. Biden will damit ein Zeichen setzen, dass er die Ausweitung des Krieges nicht hinnehmen will und bereit ist, die Militärhilfe für Kiew zu eskalieren“, so Richter.