München-Mühldorf: Eine Bahnstrecke wie aus dem Museum
Der Bahnausbau nach Mühldorf ist eine Endlos-Geschichte. Die Bahntechnik stammt noch aus der Prinzregentenzeit – vor 1900. Seit Jahrzehnten soll die eingleisige, nicht elektrifizierte Strecke ausgebaut werden. Ist es jetzt endlich so weit?
Der Bahnhof von Hörlkofen (Kreis Erding) liegt an der Strecke München–Mühldorf und ist sehr klein. Fahrdienstleiter Thomas Seubert dirigiert den Bahnverkehr von einem Häuschen aus. Willkommen im Bahnmuseum – die Technik stammt in ihren Grundzügen aus dem Jahr 1900. „Manche sagen auch 1899“, meint Seubert. So genau weiß man es nicht. Im Stellwerk gibt es Seilzüge, Kurbeln und Hebel – rote für Signale, blaue für Weichen. Die Beschriftungen sind auf Emailleschilder aufgedruckt. Es ist Handarbeit, Seubert kurbelt, Seubert zieht und drückt. Hebel rauf, Hebel runter, so werden die Züge dirigiert. Seuberts Kollege Gökhan Karaman ist extra abgestellt, um die drei videoüberwachten Bahnübergänge auf Bildschirmen im Blick zu behalten. Bahnübergangsbeobachter lautet die Berufsbezeichnung.

Ein Güterzug naht. Hmm, sagt Seubert, „wohin schieben wir den jetzt. Gleis 1? Oder doch Gleis 2.“ Es ist eng auf der Strecke, der Bahnhof Hörlkofen ist eine der wenigen Stellen, wo die Züge auf der ansonsten eingleisigen Strecke aneinander vorbeifahren können. Der Güterzug muss einen entgegenkommenden Regionalzug vorbeilassen. Rasch ist die Weiche gestellt. Als dann die wummernde Diesellok britischer Bauart mit einem Dutzend Kesselwagen aus dem Chemiewerk in Burghausen auf Gleis 2 naht, springt Seubert aus seinem Kabuff und streckt dem Lokführer seine gekreuzten Arme entgegen – das signalisiert eine Zugkreuzung, der Lokführer weiß dann, warum er anhalten muss.
Technik aus den 1890er-Jahren
So geht es zu auf der Strecke München–Mühldorf, deren älteste Anlagen, wie die Bahn in einem Pressetext offen zugibt, „noch teils aus den 1890er-Jahren“ stammen. Seit Jahrzehnten wird über den Ausbau der nicht elektrifizierten Strecke diskutiert. Sie ist großteils eingleisig. Doch selbst dieses eine Gleis ist ziemlich in die Jahre gekommen. „Die Grundsubstanz ist alt“, schimpft Lokführer Torsten Weimar, der im Führerstand des alten Dieseltriebzugs Baureihe 628 auf dem Weg nach Mühldorf ist.

Zehn Langsamfahrstellen gab es bis vor Kurzem noch (jetzt sind es noch zwei), „da kannst du den Fahrplan nicht halten.“ Weimar sagt das, obwohl er das Schienennetz der Südostbayernbahn mit seinen zahlreichen Nebenstrecken eigentlich mag. „Ich bin so mehr der Nebenstreckentyp.“
In Mühldorf ist Endstation für Weimars Zug. Am Rand des Bahnhofs hat die Bahn einen Technologiepark aufgebaut. Schallschutzwände aus verschiedenen Materialien sind zu besichtigen, sogar Kunststoffschwellen, die die herkömmlichen Schwellen aus Beton ablösen könnten. Am Boden liegen meterlange massive Metallschrauben – auf sie könnten einmal Signale montiert werden, dann spart man sich die aufwendige Erstellung von Betonfundamenten. Nur wenige der neuen Materialien haben bisher eine Zulassung durch das Eisenbahnbundesamt erhalten. Aber, so sagt Alexander Pawlik, „wir brauchen neue Technologien, damit wir schneller werden“.
Meine news

Pawlik, ein Diplom-Ingenieur, ist seit 2022 der technische Leiter für den Ausbau der Bahnstrecke München–Mühldorf mit ihren Abzweigungen nach Freilassing und Burghausen. Zu Beginn seiner Präsentation steht ein Geschichtsexkurs. 1863 ordnete König Max II. den Bau der Hauptbahnstrecke München–Simbach an. Nach nur acht Jahren Bauzeit wurde die Strecke 1871 eröffnet. Der kostspielige deutsch-französische Krieg von 1870/71 verhinderte damals eine zweigleisige Strecke. Man begnügte sich mit einem Gleis – und dabei ist es bis heute geblieben, obwohl die Strecke durch Regionalzüge und Güterverkehr aus dem bayerischen Chemiedreieck hoch belastet ist. Lediglich kurz vor Mühldorf gibt es bisher ein zweites Gleis.
Jahrelang dümpelten die Ausbauplanungen vor sich hin. Doch nun gibt es plötzlich Zeitdruck. 2027 will die Bahn die Strecke München–Rosenheim komplett sanieren. Beide Gleise werden dann über Monate gesperrt, und als Ausweichstrecke ist München–Mühldorf vorgesehen. Ein Komplettausbau ist bis dahin nicht zu schaffen. Doch zumindest die vier mechanischen Stellwerke in Hörlkofen, Thann-Matzbach, Schwindegg und Weidenbach sollen bis 2027 durch elektronische Bauwerke ersetzt werden. Ein erster Schritt.
Parallel tüftelt Pawlik mit seinem Team am zweigleisigen Ausbau und an der Elektrifizierung. Aber nicht nur das. Die Bahn will die Strecke, auf der bisher nur 120 km/h als Höchstgeschwindigkeit zugelassen ist, für 200 km/h schnelle Züge ertüchtigen. Eine halbe Million Bahnschwellen werden dafür neu verlegt. 23 Bahnübergänge sollen beseitigt werden, 169 Brücken werden modernisiert, alle Bahnhöfe barrierefrei. Zudem sollen 740 Meter lange Überholgleise gebaut werden. 740 Meter ist die künftige Maximallänge für Güterzüge. Selbst in Hörlkofen, wo es ein Überholgleis gibt, ist das Gleis derzeit nur 680 Meter lang.

Über Zeit und Kosten gibt es bis jetzt nur ungefähre Angaben. Inklusive des Neubaus der Daglfinger Kurve bei München stehen 3,8 Milliarden Euro im Raum. Ohne die Kurve gut zwei Milliarden. Zum Zeitplan für den Endausbau meint Pawlik nur: „Mitte der 2030er-Jahre.“
Immer wieder gibt es neue beunruhigende Meldungen aus Berlin. Das Geld ist knapp, angeblich steht der Mühldorfer Ausbau schon wieder zur Disposition. Aber sicher ist das nicht und Pawlik erweckt nicht den Eindruck, als würde er deswegen verzweifeln. Dafür haben seine Leute vielleicht auch schon zu viel erlebt. Es hätte zum Beispiel ein bisschen schneller gehen können, wenn unter Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) nicht ein Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz (es hieß wirklich so) beschlossen worden wäre. Über dieses Gesetz muss man nicht viele Worte verlieren, es hat den Bahnbau in Deutschland jedenfalls nirgendwo beschleunigt, sondern im Gegenteil etwa in Mühldorf „um einige Jahre zurückgeworfen“, wie Pawlik sagt. Das Gesetz wurde mittlerweile kassiert.
Sie hoffen auf den Spatenstich 2028
Jetzt aber ist endlich der konkrete Ausbau in Sichtweite: Für acht Kilometer der Strecke zwischen Hörlkofen und dem Westrand von Dorfen ist die Planung so weit fortgeschritten, dass Pawlik zumindest ein Jahresdatum für den Spatenstich nennen kann: 2028. Für den Abschnitt ist die Planfeststellung eingeleitet, ein Erörterungstermin für die Bevölkerung soll im Juli stattfinden. 2025 oder 2026 erwartet die Bahn Baurecht, danach ist noch Zeit einzuplanen für biologische Ausgleichsmaßnahmen – sprich die Umsiedlung von Zauneidechsen und anderem Getier.

Es soll der Auftakt zum ganz großen Umbau sein. Die Strecke ist in 16 Abschnitte unterteilt. Während der Power-Point-Präsentation klickt Pawlik von Abschnitt zu Abschnitt. Es gibt ganz schwierige, wie etwa Tüßling–Burghausen, wo die Bahn einen Steilhang, den Pirchacher Berg, acht Meter abtragen will, damit Güterzüge künftig nicht mehr zwei Loks brauchen, sondern nur noch eine. Es gibt auch argwöhnisch beäugte wie in Dorfen, wo der Stadtrat lange für einen Bahntunnel kämpfte. Das klappte aus Kostengründen nicht. Jetzt soll die Strecke im Stadtgebiet um zwei, drei Meter abgesenkt werden, damit die Brücke darüber mit der Bundesstraße nicht so wuchtig in der Landschaft steht. „Es sollte in Dorfen jetzt keine Schwierigkeiten mehr geben“, sagt Pawlik.
Zurück in Hörlkofen. Fahrdienstleiter Thomas Seubert ist 53 Jahre alt. Was wird aus ihm, wenn sein Stellwerk elektronisch ist und aus der Zentrale in Dorfen gesteuert wird? „Ich weiß es noch nicht“, sagt Seubert gelassen. Er wisse auch noch nicht, ob er sich für die neue Technik schulen lassen solle. „Ich arbeite eigentlich lieber mechanisch. Da weiß ich noch, was ich mache.“