„Nur 90 Sekunden Zeit“ – Reisende schildert ihre Nächte unter Raketenalarm in Jerusalem
Als Israel seinen Angriff auf den Iran beginnt, ist eine deutsche Reisende gerade in Jerusalem und erlebt alles hautnah mit. Trotz der Gefahr würde sie jederzeit wieder nach Israel reisen.
Jerusalem – Eine deutsche Gruppe flog im Juni nach Israel. Ihr Ziel: Solidarität mit dem Land zeigen. Als die israelische Regierung am 13. Juni den Angriff auf Nuklear- und Militäranlagen des Iran startete, waren die Touristen aus Deutschland plötzlich mittendrin. Im Interview mit IPPEN.MEDIA erzählt eine der Touristen von ihren Begegnungen im Bunker und den bewegendsten Momenten der Reise.
Wie sich eine Krisenerprobte auf Raketenangriffe vorbereitet
Anemone Rüger war gerade in Jerusalem, als Israel die Militäroperation „Rising Lion“ begann. Die 50-Jährige, die seit 2017 für den Verein „Christen an Israels Seite“ (CSI) tätig ist, wollte zehn Tage mit einer Reisegruppe in Israel unterwegs sein, doch plötzlich verlief der Urlaub anders als geplant. „Es gab fünf Nächte mit Alarm, während wir dort waren. Meist musste man einmal raus, aber in der letzten Nacht gab es dreimal Alarm – mit so viel Abstand, dass man sich gerade wieder auf die Nacht eingerichtet hatte“, erzählt Rüger. Sich selbst beschreibt die 50-Jährige als „krisenerprobt“.
Oft habe sie in der Ukraine bereits Holocaust-Überlebende besucht und wisse daher, worauf es ankomme, erzählt sie uns. Sie wisse schon „dass die Handtasche neben dem Bett zu stehen hat, mit Handy, Ladekabel und Trinkflasche – für den Fall der Fälle. Und dass man sich bei erhöhtem Alarmrisiko am besten so gestylt und angezogen schlafen legt, dass man jederzeit losrennen kann. Denn 90 Sekunden Reaktionszeit sind nicht viel.“ Als sich die geplante Tour durch Israel plötzlich zum Ausharren im Bunker wandelt, habe sie es als ihre Aufgabe gesehen, Seite an Seite mit den Israelis im Schutzraum zu sitzen und in den Austausch zu kommen.
Begegnungen in Israel: „Menschen zusammenbringen und gemeinsam nach vorn schauen“
Bevor der Iran-Israel-Krieg ausbrach, war die Reisegruppe viel in Israel unterwegs. Man habe etwa eine Holocaust-Gedenkstätte in Yad Vashem besucht, kombiniert mit einem Nachmittag mit einer Gruppe von Holocaust-Überlebenden im Jerusalemer Café Europa der Jerusalem Foundation. Einer von ihnen, der 90-jährige Aharon habe sie zu seinem 91. Geburtstag eingeladen. Da wolle er seinen Gästen zeigen, „wie man richtig feiert“. Es habe auch eine „spontane, aber unvergessliche Begegnung“ gegeben „mit einem Vater, der vor einem Jahr seinen Sohn im Krieg verloren hat“, erzählt die 50-Jährige weiter.
Ganz besonders sei auch eine Begegnung mit dem Weingärtner Yaakov gewesen, „der am 7. Oktober ohne Rücksicht auf die unerhörte Gefahr die Kibbuzim verteidigte, der grauenvolle Dinge sah, für die es kaum Worte gibt, und der seitdem Menschen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft zusammenbringt, um gemeinsam nach vorn zu schauen“, erzählt Rüger. Die Hamas hatte bei dem Überfall etwa 250 Geiseln genommen und rund 1200 Menschen brutal getötet, mehr als 300 allein auf dem Nova-Festival.

Die CSI-Reisegruppe besuchte auch die von Raketen der islamistischen Terrororganisation Hisbollah beschädigten Ortschaften im Norden Israels. Wie auch die Huthi-Miliz im Jemen zählt die Hisbollah zu den sogenannten Proxys des Iran und wird von Teheran unterstützt. Die Zerstörung Israels ist in der Staatsdoktrin Irans verankert.
Über Christen an Israels Seite (CSI)
Die Organisation Christen an Israels Seite versteht sich als solidarischer Freund und Partner Israels, motiviert durch biblische Überzeugung und historische Verantwortung. CSI fördert soziale Projekte, organisiert Begegnungsreisen und tritt gegen Antisemitismus ein. „An der Seite Israels zu stehen, heißt nicht auf der Seite Israels. Wir positionieren uns nicht gegen andere, sondern unterstützen Israel solidarisch“, so die Organisation.
So konnte Reisegruppe aus Israel abreisen – und warum Rüger nicht gehen wollte
Ende Juni griffen die USA mit bunkerbrechenden Waffen in den Konflikt ein, wenige Tage später trat eine Waffenruhe zwischen Israel und dem Iran in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt war die CSI-Reisegruppe bereits auf dem Landweg über Eilat und Taba nach Ägypten ausgereist und von Sharm El Sheikh via Istanbul in die Heimat zurückgeflogen. Doch gerade in dieser Situation wieder abzureisen, sei schwierig gewesen, findet Rüger. „So ein Gefühl, einen liebgewordenen Freund krank zurückzulassen“, beschreibt sie die Situation.
Von den Israelis zeigt sich die Christin schwer beeindruckt: „Was mich seit dem unfassbaren Leid und Grauen des 7. Oktober immer wieder sprachlos macht, ist, wie die Israelis, sobald sie nach einem schweren Verlust emotional wieder Luft bekommen, danach schauen, wie sie anderen helfen können, die Ähnliches erlebt haben. Immer wieder aufstehen, das Gute suchen, nicht in der Verzweiflung stecken bleiben – das berührt mich immer wieder zutiefst“, so die 50-Jährige.

Rüger: Warum viele in Israel sich vom Westen verlassen fühlen
Die Menschen in Israel würden viel durch ihre starke Gemeinschaft schaffen, meint die Reisende. „Aber in vielem fühlen sie sich auch von der westlichen Welt, die eigentlich ihre Werte teilt, alleingelassen. In dieser Situation ‚an der Seite Israels‘ zu stehen und stehenzubleiben, ist mir selbst ein tiefes persönliches Bedürfnis“, so Rüger. Zuletzt stiegen antisemitische Vorfälle in Deutschland deutlich an. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) dokumentierte 2024 8627 Vorfälle und damit knapp 77 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr.
Indes ist das Leid in Gaza groß. Seit Beginn des Überfalls der Hamas auf Israel hat die israelische Armee laut Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 57.000 Palästinenser getötet, darunter viele Zivilisten. Die Lage in Gaza ist alarmierend, viele Menschen leiden Hunger: Laut Ärzte ohne Grenzen steigt die Zahl akut mangelernährter Menschen rapide an. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnte zuletzt eindringlich vor kollektiven Schuldzuweisungen gegenüber Jüdinnen und Juden.

Clans übernehmen Kontrolle: Hamas verliert offenbar Rückhalt in Gaza
Im Krieg zwischen der Hamas und Israel ist noch kein Frieden erreicht. Zuletzt gab es Berichte, dass die Hamas „ernsthaft“ weiter verhandeln will. Offenbar droht der Terrororganisation im Gazastreifen der Machtverlust. „Die palästinensische Bevölkerung in Gaza steht vor einer unmöglichen Wahl: verhungern oder riskieren, erschossen zu werden“, kritisierte Amnesty International unlängst in einer Mitteilung. In dem Küstenstreifen in der Größe von Bremen übernehmen Berichten zufolge nach und nach Clans die Führung, einem Insiderbericht zufolge herrscht „immer mehr Gesetzlosigkeit“.
Trotz der täglichen Gewalt und politischen Verhärtung auf beiden Seiten gibt es Menschen, die nicht aufgeben. Die Graswurzelbewegung Standing Together etwa will Juden, Araber und Palästinenser zusammenbringen. Anstatt Probleme „ernsthaft anzugehen, nutzen unsere politischen Führungspersonen Angst und Rassismus, um uns zu spalten“, kritisiert die Organisation. „Statt echte Sicherheitslösungen zu bieten, liefern sie endlose Kriege.“ Das Ziel von Standing Together? „Wir stellen uns eine Gesellschaft vor, die allen dient und jede Person mit Würde behandelt.“
Am Montag (14. Juli) nahmen der israelische Außenminister Gideon Saar und die palästinensische Außenstaatsministerin Warsen Aghabekian Schahin Berichten zufolge an einem EU-Treffen mit Ländern aus Südeuropa und Nordafrika in Brüssel teil. Ein direktes Gespräch zwischen Saar und Schahin ist allerdings nicht geplant, hieß es. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach Frieden im Nahen Osten.