Totalverweigerer sind nicht das Problem: Warum Bürgergeld-Bezieher nicht arbeiten

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Bürgergeld-Empfänger wollen nicht arbeiten, lautet ein Vorwurf. Die Merz-Regierung will mit harten Sanktionen reagieren. Doch die Probleme liegen woanders.

Berlin – Nur zwei Jahre nach der Einführung steht das Bürgergeld schon wieder auf der Kippe. Die neue Regierung unter Kanzler Friedrich Merz (CDU) will es zur „neuen Grundsicherung“ umbauen. Konkrete Aspekte sind bisher unklar, Ziel bleibt jedoch eine vermeintliche Rückkehr zum „Fordern und Fördern“. Schnellere Sanktionen, dazu bis zum „vollständigen Leistungsentzug“ sollen die Beziehenden möglichst schnell in Arbeit bringen.

„Totalverweigerer“ bei Bürgergeld-Reform im Fokus

Die Reform der Grundsicherung zielt dabei vor allem auf die sogenannten „Totalverweigerer“ ab, die Arbeitsangebote wiederholt ablehnen. Dabei ist das eine statistisch kleine Gruppe, 2024 haben Jobcenter lediglich knapp 23.400 Sanktionen verhängt. Die Änderungen würden jedoch vorangetrieben, ohne dass es bisher eine „umfassende wissenschaftliche Evaluierung des Bürgergelds“ gegeben habe, kritisiert der Verein Sanktionsfrei.

Die Beziehenden selbst würden in der Debatte kaum gehört. Gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlicht der Verein nun eine eigene Bürgergeld-Studie. Dabei wurden 1014 Betroffene vom Umfrageinstitut Varian online zu ihren Erfahrungen bei Arbeitssuche und dem Kontakt zum Jobcenter, zu ihrem Auskommen mit dem Regelsatz sowie zur gesellschaftlichen Teilhabe befragt.

Neue Bürgergeld-Studie von Sanktionsfrei: Mehrheit der Bezieher will unabhängig werden

Die Ergebnisse zeigen, dass der Wunsch, die Abhängigkeit vom Bürgergeld zu beenden, bei einer deutlichen Mehrheit von 74 Prozent stark ausgeprägt ist. Nur acht Prozent verneinen das. Dabei zeigen sich die Arbeitsuchenden aktiv. Im Mittel versendeten die Leistungsbeziehenden acht Bewerbungen, während sie von den Jobcentern zwei Vermittlungsangebote erhielten.

Eine Jobcenter-Mitarbeiterin sitzt an einem Computer. Dahinter, nicht richtig zu sehen, sitzt ein mutmaßlicher Bürgergeld-Empfänger zu einem Gespräch.
Jobcenter-Mitarbeiter haben durch das Bürgergeld die Möglichkeit bekommen, stärker individuell auf die Empfänger einzugehen und sie zu fördern. Nun hat durch den Vermittlungsvorrang die schnelle Arbeitsaufnahme Priorität. (Symbolfoto) © Jens Kalaene/dpa

Zu 14 Prozent lehnten die Beziehenden ein Angebot einmal ab, weitere 14 Prozent mehrfach, heißt es in der Studie. Auf alle 1014 Befragten hätten damit drei Prozent einmal ein Angebot abgelehnt, weitere drei Prozent mehrfach. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie zu den „Totalverweigerern“ zählen. Wenn sie die Ablehnung begründen und das Jobcenter das anerkennt, erfolgt keine Sanktion.

Studie zeigt Hürden von Bürgergeld-Empfängern bei der Arbeitsuche

Am häufigsten lehnten die Befragten Angebote ab, wegen einer unpassenden Qualifizierung, die Entfernung oder schlechte Erreichbarkeit der Arbeitsstelle sowie ihren schlechten gesundheitlichen Zustand. Dazu seien die Angebote mit Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen nicht vereinbar. Ein zu geringes Gehalt sei nur selten für die Ablehnung genannt worden.

Die Gründe für ausgeschlagene Angebote der Jobcenter decken sich mit den Ergebnissen zu Hürden, denen sich die Erwerbslosen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert sehen. Die Befragten nennen zu 59 und 57 Prozent körperliche und psychische Erkrankungen, bei 44 Prozent komme beides zusammen, heißt es in der Studie. Dazu beobachten die Arbeitssuchenden ein Arbeitsmarkt-Mismatch. 52 Prozent beklagen, dass es keine passenden Stellen in ihrer Region gebe. Die Hälfte erklärt, dass Jobangebote nicht zu ihrer Qualifikation passen.

Arbeitsmarkt bietet Bürgergeld-Empfängern kaum Chancen

43 Prozent der Befragten hatten keinen Ausbildungsabschluss und sind damit auf sogenannte „Helfertätigkeiten“ angewiesen, die jedoch aktuell kaum gefragt sind. Die Chance von Arbeitslosen auf eine Beschäftigung sei aktuell „auf einem historischen Tiefstand“, hatte auch das Bundesarbeitsministerium kürzlich auf IPPEN.MEDIA-Anfrage erklärt. Die Zahl der monatlich neu gemeldeten offenen Stellen sei so gering wie seit Jahrzehnten nicht mehr. 80 Prozent der Stellen richteten sich dagegen an Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung – was eben viele Menschen im Grundsicherung-Bezug nicht haben.

Nur wenige Befragte sind deshalb optimistisch, dass ihnen der Ausweg aus der Grundsicherung gelingt. 51 Prozent glauben nicht, dass sie eine Stelle finden, die sie unabhängig von Sozialleistung macht. Umgekehrt glauben 59 Prozent, dass sie weiterhin mit Bürgergeld aufstocken müssen, wenn sie eine Stelle finden. Nur 16 Prozent glauben das nicht. Die Umfrage deckt sich mit Ergebnissen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Demnach kommen ehemalige Erwerbslose häufig in prekäre Beschäftigung und bleiben häufig weiter abhängig von Sozialleistungen.

Bürgergeld-Sanktionen belasten durchwachsenes Verhältnis zu Jobcentern

Die Jobcenter sollen bei der Arbeitsuche unterstützen. Das Verhältnis ist jedoch durchwachsen. 32 Prozent der Befragten fühlen sich schlecht, 29 Prozent gut behandelt. Eine Mehrheit von 57 Prozent glaubt nicht, individuell vom Jobcenter gefördert zu werden. Immer wieder werde betont, dass der Kontakt sehr personenabhängig sei, heißt es in der Studie. Die Befragten wünschten sich dabei häufig mehr Weiterbildungen.

Die Bürgergeld-Beziehenden sehen Sanktionen dagegen kritisch – und zweifelt an der Wirkung. Die Hälfte lehnt die Aussage ab, dass sie mehr tun, um den Bürgergeld-Bezug zu beenden, wenn die Leistungen gekürzt werden. Nur ein Fünftel stimmt dem zu. 46 Prozent erklären dagegen, dass sie ohne Sanktionen freier wären, eine Arbeitsstelle zu suchen. Das deckt sich mit der Aussage vieler Betroffener, die zur bisherigen Regelsatz-Höhe erklären, dass Grundbedürfnisse nicht ausreichend erfüllt werden und Sonderausgaben „substantielle Einschnitte“ bedeuteten. Entsprechend sind geringere Zahlungen eine Belastung.

Bürgergeld-Kürzung ist „kontraproduktiv“ – für Empfänger, Unternehmen und Sozialstaat

„Eine Kürzung der Leistungen ist kontraproduktiv, nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für Unternehmen, Gesellschaft und Sozialstaat, da dies die Arbeitsaufnahme erschweren und nicht verbessern würde“, erklärte DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Er fordert dagegen mehr Investitionen. „Das Bürgergeld muss so ausgestaltet sein, dass es die Teilhabe aller betroffenen Menschen gewährleistet.“

Der Verein Sanktionsfrei um Gründerin und Vorsitzende Helena Steinhaus fordert deshalb den Fokus auf Qualifizierung und Weiterbildung statt des Vermittlungsvorrangs. „Statt den Fokus stets auf angeblich mangelnde Arbeitsbereitschaft zu richten, muss die Frage gestellt werden, inwiefern es für Personen im Bürgergeld überhaupt ausreichend bedarfsdeckende Stellen gibt“, so die Forderung. Dazu brauche es einen „bedarfsdeckenden Regelsatz von 813 Euro“ sowie die Abschaffung von Sanktionen.

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