Gastbeitrag von Gabor Steingart - Das Fabelwesen CDU zeigt viele Gesichter – für die Wähler ist das verwirrend
Im Märchenwald der Politik ereignen sich in diesen vorweihnachtlichen Tagen gar wundersame Dinge. Vielleicht ist die CDU gar keine Partei, sondern ein Fabelwesen. Womöglich heißt ihr Ur-Vater nicht Adenauer, sondern Rübezahl.
Zumindest sind die Ähnlichkeiten der CDU mit dem Berggeist aus dem Riesengebirge unübersehbar, der den Menschen in unterschiedlicher Gestalt entgegentrat, sie zu Tode erschrecken aber dann auch liebevoll verzaubern konnte. Er war ein Wesen von schemenhafter Natur, das sich in Charakter und Gestalt der Eindimensionalität widersetzte.
In der Überlieferung des Schriftstellers Johann Karl August Musäus heißt es über die Sagengestalt:
„Freund Rübezahl, das sollt ihr wissen, ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden; stolz, eitel, wankelmütig, heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt.“
Jeder sieht die CDU, die er sehen will
Warum das wichtig ist? Weil im Moment jeder die CDU sieht, die er gerne sehen möchte. Die große deutsche Regierungspartei, die sich anschickt, in wenigen Wochen ins Kanzleramt einzuziehen, ist von nebelhafter Gestalt. Keiner verkörpert sie in Gänze.
Mal sieht die Partei aus wie der konservative Riese Friedrich Merz, der zu Ludwig Erhard betet und dem Unternehmer in seiner Bedeutung für die Volkswirtschaft die Ehre erweist. Höhere Steuern und neue Schulden sind für ihn Teufelszeug. In seinem Reich scheint die Sonne der Marktwirtschaft.
Dann aber nimmt die Partei plötzlich wieder die Gestalt der klugen Kräuterhexe Angela Merkel an, in deren Garten der Sozialstaat spross und die Nettokreditaufnahme gedeihte. Sie betrachtet – diese Botschaft hat sie jetzt in ihrem Buch „Freiheit“ erst wieder gesendet – die Schuldenbremse des Grundgesetzes als bösen Fluch, den eine CDU-Regierung unbedingt brechen müsse.
Zwerge und Feen mit ganz unterschiedlichen Forderungen
Wer sich in das Unterholz der Steuer-, Sozial- und Migrationspolitik begibt, wird auf immer neue Zwerge und Feen stoßen, die sich als Vertreter der CDU ausgeben. Der CDU-Wirtschaftsrat schwört auf Aufstieg durch Anstrengung, die CDU-Sozialausschüsse wollen den Sozialstaat zum „Therapiestaat“ (Peter Sloterdijk) ausbauen, auch um den Preis, so der Philosoph, dass dies „die Ausplünderung der Zukunft durch die Gegenwart“ bedeutet.
Auf den steinernen Gebotstafeln, die sich heutzutage CDU-Grundsatzprogramm nennen, heißt es in geradezu biblischer Klarheit:
„Es ist unser Ziel, dass die Steuerlast möglichst niedrig bleibt. Niedrigere Steuern und Abgaben sorgen für höhere Löhne, mehr Jobs und stärkeres Wachstum.“
Das hindert eine Fee aus Schleswig-Holstein, unschwer als die Stellvertreterin von Merz namens Karin Prien zu erkennen, nicht daran, Steuererhöhungen ins Spiel zu bringen. Diese seien wegen der Haushaltslage nicht ausgeschlossen, sagte sie gegenüber „Politico“:
„Man wird sich über Finanzierungsinstrumente Gedanken machen müssen.“
Uneinigkeit bei Atomkraft und Migration
In der Klimapolitik das gleiche unscharfe Bild. Klimaschutz sei „nicht durch Planwirtschaft, Dirigismus und Verbote“ zu erreichen, sagt Carsten Linnemann, derweil die CDU-Riesin aus Brüssel, Ursula von der Leyen, mit ihrem Green Deal genau an diesem dirigistischen Plan arbeitet. Linnemann sagt bei RTL, er würde gern prüfen wollen, ob man stillgelegte Atomkraftwerke wieder hochfahren könne. Merkel rät in ihrem Buch davon ab:
„Ich kann Deutschland auch für die Zukunft nicht empfehlen, wieder in die Nutzung der Kernenergie einzusteigen.“
In der Migrationspolitik begegnen uns Fabelwesen dutzendfach. Der Bergriese Merz ruft ins Tal hinab:
„Nicht die Messer sind das Problem, sondern die Personen, die damit herumlaufen. In der Mehrzahl der Fälle sind dies Flüchtlinge.“
Doch das Echo kommt verzerrt zurück. In ihrem Buch schlägt Merkel einen milderen Ton beim Thema Migration an. Er will abschieben. Sie will therapieren:
„Weder war es sinnvoll, die Veränderungen, die sich in der Gesellschaft durch Migration ergaben, einfach abzulehnen, noch war es hilfreich, so zu tun, als gäbe es keine Probleme.“
Schlüpft ein schwarz-grünes Zwitterwesen?
Unklar ist, mit wem sich unser Rübezahl vereinigen wird, wenn nach dem Wahltag die Paarungszeit beginnt. Auf keinen Fall mit den Grünen, ruft der bayerische Bergriese Markus Söder und der CDU-Pate von Hessen, Roland Koch, kommt aus dem Nicken nicht heraus.
Aber warum denn nicht, heißt es bei den Ministerpräsidenten Hendrik Wüst in NRW und Daniel Günther in Schleswig-Holstein – beide regieren mit den Grünen. Auch in Baden-Württemberg erfreut sich die grün-schwarze Koalition bester Gesundheit.
„Das sind ja nicht die erfolglosesten Bundesländer“, bemerkte Angela Merkel im Spiegel – nicht ohne Hintersinn. So sehen es auch Armin Laschet und Christian Wulff.
Nebelschwaden durchziehen das Märchenland. Ängstliche Bewohner des Tales erkennen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg bereits das Embryonalstadium eines schwarz-grünen Zwitterwesens, das nach dem Wahltag auch in Berlin ins Freie schlüpfen könnte. Der schwarze Riese Rübezahl alias Merz wäre verzwergt.
Fazit: Der mystische Charakter der kommenden Bundestagswahl wird gemeinhin unterschätzt. Die CDU weiß selbst noch nicht, in wen sie sich verwandeln wird. Gut möglich, dass sie einen stolzen Rübezahl ins Kanzleramt schickt – und unterm Dach und in den Herzen der CDU-Mitglieder wohnt weiter die Kräuterhexe.