Gefährliche Entwicklung - Warum 1,2 Millionen junge Menschen in Deutschland nichts lernen oder arbeiten
Heterogene Personengruppe
Die Individuen, von denen in diesem Rahmen gesprochen wird, sind heterogen und werden von verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst. Trotzdem gibt es Indizien, die eine Gruppierung zulassen, und eines ist wohl, dass rund 600.000 junge Menschen in Deutschland zwischen 18 und 24 Jahren Bürgergeld beziehen.
Nun wird der NEET aber bis 29 Jahre definiert und für den restlichen Zeitraum haben wir, Wiederholung mag nicht spannend sein, ist aber vonnöten, leider keine verlässlichen Zahlen, weil jene schlicht nicht differenziert erhoben werden. Gleiches gilt für spezifische Konstellationen wie beispielsweise Bedarfsgemeinschaften, Sozialhilfe oder Unterhaltspflichten. Es lässt sich nun spekulieren, wie viele der Betroffenen tatsächlich im SGB-II-Bezug sind, der Anteil dürfte aber nicht zu unterschätzen sein.
Ein weiterer Faktor ist der Migrationshintergrund. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und des Deutschen Jugendinstituts (DJI) lag der Anteil der NEETs unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2020 bei etwa 13 Prozent, während er bei jungen Menschen ohne einen solchen bei rund 6 Prozent lag.
In Ostdeutschland ist die NEET-Quote tendenziell höher als in Westdeutschland. Während die Quote in einigen westdeutschen Bundesländern bei etwa 8 Prozent liegt, erreicht sie in ostdeutschen teilweise über 10 Prozent. Männer nehmen mit knapp 60 Prozent einen dominierenden Anteil ein.
Interessant wäre es gewesen, zu erfahren, wie viele nicht unter schwierigen Startvoraussetzungen leiden oder einfacher ausgedrückt: Wie hoch ist der Anteil derjenigen, die gute oder zumindest ordentliche Voraussetzungen haben, sich aber bewusst dafür entscheiden, sich temporär oder dauerhaft den gesellschaftlichen Erwartungen zu entziehen?
Leider lässt sich darüber, erneut wird es redundant, aber nur spekulieren, denn verlässliche Zahlen gibt es nicht. Trotzdem müssen auch solche Konstellationen ein Teil der Diskussion werden. Eine Verengung wäre wohl kontraproduktiv.
Warum machen 1,2 Millionen nichts?
Bei den Ursachen für die Untätigkeit von ca. 1,2 Millionen jungen Menschen muss ähnlich differenziert vorgegangen werden.
Erst einmal wäre das zu nennen, was unübersehbar und offensichtlich ist: Personen aus eher abgehängten Milieus wie dem Prekären haben oft weniger Unterstützung und Ressourcen, was ihren Zugang zu Bildung und Arbeit erschwert.
Persönliche Probleme wie psychische Gesundheit, fehlende Motivation und gesundheitliche Einschränkungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Zudem führen regionale Unterschiede in der Verfügbarkeit von Bildungs- und Unterstützungsmöglichkeiten, Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen sowie Herausforderungen für Jugendliche mit Migrationshintergrund, wie Sprachbarrieren, zu zusätzlichen Hürden, oft zu komplizierten Konstellationen.
Alles Faktoren, die weitgehend bekannt sein dürften, auch wenn es uns als Gemeinschaft offenbar nicht gelingt, sie zufriedenstellend zu bearbeiten. Trotzdem müssen wir auch über die Begriffe „Normalität“ und „digitales Umfeld“ reden, denn dies sind zwei Schlüsselfaktoren unserer so schnellen und dynamischen Zeit, die historisch gesehen erst eine Nebenrolle spielten und nun wahre Protagonisten auf der gesellschaftlichen Bühne sind.
Normen werden hinterfragt
Der erste Punkt ist die gängige Vorstellung von Normalität, wobei wir uns ganz auf das Themengebiet begrenzen und daher eher von gesellschaftlichen Erwartungen sprechen wollen.
Grundsätzlich gibt es vielfach noch die Vorstellung eines Konsens, dass ein Studium oder eine Ausbildung sowie eine anschließende Aufnahme einer sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit einer gewünschten Norm entspricht. Ein Ideal, das Gewohnte.
Tatsächlich hat sich aber unsere Gesellschaft massiv gewandelt. Sie ist in unzählige kleinere Lebenswirklichkeiten zerfallen, die alle ihre ureigenen Vorstellungen von Normalität, einem guten Leben oder dem richtigen Verhalten haben. Milieus, die sich teilweise abgekoppelt und nicht selten nur noch eine ganz schwache Verbindung zu dem einenden Band und den mutmaßlich allgemein akzeptierten Vereinbarungen des Landes haben.
Daher spielen vermeintliche gesellschaftliche Grundüberzeugungen, wie beispielsweise die berufliche Aktivität oder der Leistungsgedanke, für sie keine herausragende Rolle, sondern andere Zustände wirken individuell attraktiver. Individualisierung, Selbstentfaltung, Weltprobleme lösen, sich ausleben – das wären die richtigen Stichworte für eine entsprechende Diskussion.
Digitale Konditionierungen werden unterschätzt
Diese haben heute bei jungen Menschen in vielen Fällen allerdings auch etwas mit der digitalen Konditionierung durch verhaltenskapitalistische Elemente im Rahmen des Internet-Konsums zu tun.
Es ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits werden geschickt, die Bedürfnisse des Einzelnen durch Algorithmen oder KI herausgearbeitet, was sehr zur Selbstfindung beitragen kann, andererseits wird der Nutzer aber auch in seiner Entwicklung, seinem Verhalten und seinen Fähigkeiten massiv beeinflusst.
Die virtuelle Welt rückt das Individuum in den Mittelpunkt, macht ihn zum König in der eigenen Welt und zwingt ihn doch in den unsichtbaren Rahmen eines kollektiven Individualismus. Eine Einbettung, die nicht selten das Selbstwertgefühl steigert und auch emotional unabhängiger vom Lob und Tadel der „echten Welt“ macht. Der sanfte Druck der Gemeinschaft verfängt nicht mehr, wenn er denn von dem spezifischen Milieu überhaupt jemals wahrgenommen und anerkannt wurde.
Belohnungen gibt es unmittelbar, gerne per Klick. Wozu dann noch Anerkennung und diese ist zweifellos eine bedeutende Triebfeder menschlichen Handelns, woanders suchen? Mühevoll im Job? Warum der schwierige Weg, wenn es auch einfach gibt, wenn stetig vor Augen geführt wird, wie leicht Ruhm und Ehre errungen werden können?
Dass dieser Souverän dann womöglich Schwierigkeiten mit einer weniger bedeutenden Rolle in der Arbeitswelt hat, ist nicht sonderlich überraschend, denn das Anspruchsdenken ist womöglich ein anderes.
Zurecht? Das müssen wir an dieser Stelle nicht diskutieren, aber so entsteht eine moderne Identifikationsdissonanz.
Wie so oft gilt aber auch an dieser Stelle erneut, dass auch diese Auswirkungen der Technologien einer neuen Zeit noch völlig unzureichend erforscht sind. Immerhin wundern wir uns schon gelegentlich darüber, dass manche Generation im Mittel etwas andere Prioritäten setzt. Immerhin.
Wie sollte mit dem NEET-Phänomen umgegangen werden?
Unabhängig davon und von der genauen Anzahl stellen die NEETs am Ende ein gigantisches Potenzial dar, das langfristig besser genutzt werden muss.
Um dem entgegenzuwirken, ist es notwendig, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, diese konsequent zu erforschen und die Vorgehensweisen anzupassen.
Dazu gehören Maßnahmen wie Förderprogramme, Bildungsinitiativen, intensive Berufsvorbereitung, Erforschung der digitalen Konditionierung und psychosoziale Unterstützung.
Es bedarf auch einer Verständigung auf allgemeingültige Normen – letztendlich eines neuen Gesellschaftsvertrags, in dem wir klären müssen, wer wir sind und wohin wir wollen. Letzteres ist eine Herausforderung, der unsere zersplitterte Gesellschaft in der aktuellen Lage nicht gewachsen scheint.
Aber so ist eben; die Geschichte warten nie auf den richtigen Moment, sondern fordert stetige Anpassung und aktives Handeln.