FOCUS-Kolumne von Jan Fleischhauer - Es hilft alles nichts: Im Boxfinale der Frauen stehen biologisch gesehen zwei Männer

Neue Gesetze spiegeln IOC-Realität wider, Unklarheiten bei Boxerinnen bleiben

IOC-Präsident Thomas Bach kommt aus Deutschland, man darf vermuten, dass ihm die Genderdebatte bekannt ist. Zum 1. November tritt nach langer Beratung ein Gesetz in Kraft, wonach der Geschlechtseintrag zur Willenserklärung wird. Ein Antrag beim Standesamt und im Pass steht das, was man sich wünscht. Das ist die neue Wirklichkeit, die damit auch die Wirklichkeit des IOC ist.

Wie verhält es sich im Fall der beiden Boxerinnen? Die Faktenlage ist nicht ganz klar, aber vieles weist darauf hin, dass Khelif und Yu-ting sowohl über das X- als auch über Y-Chromosomen verfügen, sie also biologisch gesehen Männer sind. Beide Sportlerinnen wurden aufgrund von DNA-Tests von der Weltmeisterschaft in Neu-Delhi ausgeschlossen. Der Boxverband, der die Weltmeisterschaft ausrichtet, gilt als korrupt und zudem von Russland dominiert.

Genetische Unterschiede bei Khelif und Yu-ting sind komplex

Aber der anerkannte Sportjournalist Alan Abrahamson hat die Tests gesehen, die zum Ausschluss führten. Danach blieb dem Verband kaum eine andere Wahl.

In seltenen Fällen kommt es vor, dass die Geschlechtsentwicklung variiert. Das scheint auch bei den beiden Sportlerinnen, über die nun alle reden, der Fall zu sein. Ein Enzym- defekt – die Experten sprechen von 5-Alpha-Reduktase-Mangel – kann dafür sorgen, dass die männlichen Genitalien beim Fötus nicht entsprechend ausgebildet sind. Bei der Geburt werden solche Kinder deshalb oft für Mädchen gehalten und dann auch entsprechend aufgezogen.

Unterstützer von Khelif haben ein Foto gepostet, das sie als Siebenjährige im Kleid zeigt. Abgesehen davon, dass in diesem Fall kurioserweise der Fotobeweis, der bei der erwachsenen Sportlerin als beleidigend empfunden wird, als ausreichend gilt: Die entscheidende Veränderung setzt in der Pubertät ein. Bis zum Alter von etwa 12 Jahren liegt bei Mädchen und Jungen der Testosteron-Spiegel gleich niedrig. Danach entwickelt er sich rasant auseinander – mit der Folge, dass Männer deutlich mehr Muskelmasse aufbauen.

Die Gerechtigkeit im Boxring in Frage gestellt

Das IOC weist darauf hin, dass es auch Frauen mit einem erhöhten Testosteron-Level gebe. Das ist zutreffend. Aber wie die Juristin Doriane Lambelet Coleman in einem exzellenten Artikel im Online-Magazin „Quillette“ schreibt, kommen selbst Frauen mit einem erhöhten Testosteron-Spiegel nicht einmal ansatzweise auf das Niveau von Männern.

Genau das ist es, was die Auftritte der beiden Boxerinnen so zweifelhaft macht – und für die Konkurrentinnen so gefährlich. Bei Läufern geht es nur um Schnelligkeit, bei Boxern auch um die Wucht der Schläge. Die durchschnittliche Schlagkraft von Männern, die die Pubertät durchlaufen haben, ist um 162 Prozent höher als bei Frauen.

Gesellschaftspolitisch gesehen ist Sport in dem Zusammenhang ein großes Ärgernis. Überall ist die binäre Ordnung aufgebrochen. Selbst Umkleidekabinen und Frauensaunen sind nicht mehr automatisch Räume, zu denen nur Frauen, die über alle Attribute einer Frau verfügen, Zugang haben. Lediglich bei Wettkämpfen gilt noch die alte Ordnung.

Verschärfung der Regeln weckt Widerstand

Nach ersten Versuchen, auch Transfrauen zuzulassen, haben die Sportverbände die Regeln sogar verschärft. Teilnehmen darf nur, wer biologisch eine Frau ist – da kann im Pass stehen, was will. Wo, wie bei der Schwimmerin Lia Thomas oder der Läuferin Caster Semenya Zweifel aufkommen, entscheidet der Test. Wer im Blut zu hohe Testosteronwerte aufweist, ist raus oder muss diese künstlich senken.

Kein Wunder, dass Aktivisten diese Behandlung als Beleidigung empfinden. Daher auch die Hartnäckigkeit, mit der behauptet wird, in Paris habe alles seine Richtigkeit. „Imane Khelif ist eine Cis Frau“, schrieb der „Volksverpetzer“, eine eher randständige linke Krawallpostille, die allerdings sofort dankbar als Referenz genommen wird, wenn es der gerechten Sache dient.

Gender geht über biologische Kategorien hinaus

Wie bei jeder Debatte gibt es interessantere und weniger interessante Stimmen. Zu den interessanteren zählt Caitlyn Jenner, eines der Idole der Transbewegung. Im ersten Leben, als Bruce Jenner, war Caitlyn ein berühmter Zehnkämpfer. Dann folgte die Transition und anschließend das Coming Out, das die Öffentlichkeit mindestens so beschäftigte wie die Titeljagd des Übersportlers.

Was sagt Caitlyn Jenner zu der Debatte? „XX – du bist bei den Frauen. XY – du bist bei den Männern. Darauf läuft es hinaus.“ Interessanterweise finden sich gerade unter Transpersonen eine Reihe von Leuten, die wenig von dem Versuch halten, Mann und Frau als Kategorien auszumustern.

Körperform kann verändert werden, aber biologische Realität bleibt bestehen

„Wer meint, dass Imane Kehlif eine Frau ist, weil ihre Geburtsurkunde das sagt, dem kann ich nur antworten: Das ist ein Beweis für gar nichts“, schrieb der Transaktivist Buck Angel auf X. „Ich bin eine biologische Frau. Ich verfüge über viel Testosteron, weil ich es mir injiziere.“ Wer die Bilder ansieht, die Buck Angel von sich postet, würde nie im Leben auf die Idee kommen, dass er mal ein zartgliedriges Mädchen war. Auf den Fotos schaut einen ein bärtiger Typ an, dessen Muskelberge jeden Durchschnittsmann vor Neid erblassen lassen können.

Vielleicht ist das die Lehre aus dem Spektakel in Paris: Natur ist kein unabwendbares Schicksal. Wer bereit ist, den Preis zu zahlen, kann seinem Körper fast jede Form geben. Darin liegt ein ungeheures Freiheitsversprechen. Aber das heißt nicht, dass wir die Natur überwinden könnten.

Erscheinung zählt; Leugnen provoziert Widerstand

Ich glaube, viele können sich in das Leid eines Menschen einfühlen, der weiß, dass er ganz anders ist als die anderen und dann das Boxen als Rettung entdeckt. Die Verzweiflung im Gesicht von Imane Khelif ist nicht gespielt. Aber was die meisten nicht akzeptieren ist, wenn man ihnen weismachen will, dass es keine Rolle spielt, ob jemand wie ein Mann auftritt und im Zweifel auch wie ein Mann zuschlägt.

Wenn man den Leuten einzureden versucht, dass das, was sie sehen, nicht zählt – ja, dass es sogar unanständig ist, zu äußern, was man sieht – dann provoziert man nicht Einsicht, sondern Gegenwehr.

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