Attentat in München - Terrorismus-Experte warnt: Dringender Reformbedarf, um Radikalisierung online zu stoppen

 

Diese seit Monaten andauernde Serie von Anschlägen in Deutschland demonstrieren in erschütternder Weise die extrem angespannte Sicherheitslage in Deutschland, die destruktive Kraft der kaum behinderten Verbreitung extremistischer Ideologien online, sowie die Grenzen der Möglichkeiten der deutschen Sicherheitsdienste.

Insgesamt verschärft sich die Terrorbedrohung in Deutschland und Europa seit 2021 stetig. Mit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan im August 2021 und der erneuten Machtübernahme der Taliban im Land gelang es sowohl al-Qaida als auch dem Ableger des Islamischem Staates (IS) im Land, dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK), erneut an Schlagkraft zu gewinnen. Die Talibanführung bietet mehreren al-Qaida Gruppierungen in Afghanistan Schutz und erlaubt diesen, Anschläge im Ausland, insbesondere in Pakistan, zu verüben. Gegen ISPK gehen die Taliban nur dann vor, wenn die Gruppierung Anschläge gegen das Regime in Afghanistan verübt. Vorbereitungen von internationalen Anschlägen durch den ISPK stören die Taliban nicht. Die regelmäßigen Verhaftungen von Individuen und Zellen, die im dem ISPK verbunden sind, in Deutschland in den letzten zwei Jahren zeigen dies.

Seit 2022 haben sich die französischen, europäischen, amerikanischen und VN-Kräfte aus Westafrika zurückgezogen, zum Teil aus eigener Entscheidung, zum Teil aufgrund des Drucks der neuen Militärregierungen in der Region. Dies hat auch dort zu einem enormen Anstieg der al-Qaida und IS Aktivitäten geführt.

Mit dem Fall des Assad-Regimes in Syrien ist im Dezember 2024 nicht nur ein Machtvakuum entstanden, sondern mit der Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) hat eine Koalition von Gruppierungen die Kontrolle übernommen, welche in Teilen extremistisch-Islamistische bis terroristische Ziele verfolgen. In den sozialen Medien haben sowohl der IS als auch die Führung der al-Qaida im Land die Hoffnung geäußert, dass die veränderte Machtlage in Syrien neue Möglichkeiten für sie bedeuten.

Daher ist es nicht überraschend, dass seit 2021 das extremistisch-Islamistische Milieu immer mehr den Eindruck gewinnt, dass die Strategie, durch permanente Terroranschläge den Westen nachhaltig zu schwächen erfolgreich ist. Nicht nur sind die operativen Freiheiten der Terrornetzwerke der al-Qaida und des IS in allen Konfliktregionen gewachsen, der andauernde Nahostkonflikt hat weite Teile des extremistischen Milieus weiter radikalisiert und bietet der Terrorpropaganda immer wieder neue Nahrung.

Selbst Gruppierungen wie der IS, welche bis Oktober 2023 das Schicksal der Palästinenser mehr oder weniger komplett ignoriert hat, greifen den Konflikt auf und missbrauchen die Ereignisse für ihre Propagandazwecke.

Diese Terrorpropaganda wird durch die sozialen Medien direkt auf die Bildschirme von Konsumenten im Westen, inklusive Deutschland gespült. Der Verbreitung solcher hasserfüllten Nachrichten und Aufrufen zu Terroranschlägen wird durch die Firmen der sozialen Medien wenig entgegengesetzt. Leider haben in den letzten Monaten sowohl X als auch META offiziell verlautbaren lassen, dass sie die Moderation ihrer Inhalte zurückfahren, wenn nicht sogar gänzlich einstellen werden. Dies ist umso bedauerlicher, da die internen technischen Funktionen der sozialen Medien Radikalisierungsprozesse unbeabsichtigt unterstützen.

Das Geschäftsmodel dieser Konzerne beruht auf der Sammlung und Auswertung möglichst vieler Nutzerdaten. Diese werden fortdauernd analysiert, um dem jeweiligen Nutzer extrem personalisierte Werbeaufschaltungen anzubieten. Werbeeinnahmen stellen die wesentliche Einnahmequelle der Plattformen dar. Um sicher zu stellen, dass Nutzer möglichst lange auf der Plattform verweilen und damit Daten zur Verfügung stellen, werden Algorithmen eingesetzt, welche das Verhalten der Nutzer analysieren und diese nur mit den Inhalten versorgen, welche das Weltbild der Nutzer bestätigen, nicht mit solchen, die es in Frage stellen.

Bei online Radikalisierungsprozessen bedeutet dies, dass immer mehr und immer extreme Inhalte angeboten werden. Damit unterstützen und beschleunigen die eingesetzten Algorithmen technisch den Radikalisierungsprozess. Diese Funktion wirkt unabhängig von der jeweiligen ideologischen Einstellung. Der Attentäter von Solingen war ein Anhänger des IS, der Attentäter von Magdeburg hatte ein ganz eigenes extremistischen Weltbild und war anti-Islamist.

Da diese Algorithmen ein zentraler Bestandteil des Geschäftsmodells der Plattformen sind, ist nicht davon auszugehen, dass die Konzerne aus eigenem Antrieb deren Funktion verändern. Sie sind weiterhin auch nicht dazu verpflichtet pro-aktiv mit den Sicherheitsdiensten in Deutschland und Europa zu kooperieren.

Das 2024 in Kraft getretenen EU-Gesetz über Digitale Dienste schreibt zwar vor, wie Plattformen reagieren müssen, wenn sie von außen, entweder durch Nutzer oder durch Behörden, auf illegale Inhalte aufmerksam gemacht werden, eine proaktive Zusammenarbeit mit den Sicherheits- und Polizeidiensten sowie der Justiz ist jedoch nur in sehr begrenztem Umfang verpflichtend.

Eine pro-aktive Zusammenarbeit bei Radikalisierungsprozessen von potenziellen terroristischen Straftätern ist nicht vorgesehen. Die Konzerne sind daher fast vollständig aus der Verantwortung entlassen. Dies sollte dringend überarbeitet werden. Die Plattformen sammeln alle Daten aller ihrer Nutzer und werten diese fortdauernd aus. Daher sind sie auch in der Lage zu erkennen, wenn sich Individuen nicht nur radikalisieren, sondern in Richtung Gewalt abdriften. Sie sollten dazu verpflichtet werden, solche Vorgänge pro-aktiv den Sicherheits- und Polizeibehörden mitzuteilen.

Obwohl aufgrund dieser aktuellen Regulierung nicht mit Hinweisen auf potentielle Terroristen von Seiten der Plattformen der sozialen Medien gerechnet werden kann, hat der Gesetzgeber mit der Reform der Gesetzesgrundlage des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Bundesverfassungsschutzes (BfV) und des Bundeskriminalamts (BKA) diesen und den entsprechenden Landesbehörden nicht das notwendige gesetzliche Mandat zur Verfügung gestellt, welches eine effektivere online Beobachtung extremistischer und terroristischer Individuen, Gruppen und Netzwerke von außen erlauben würde. Weder wurde die Vorratsdatenspeicherung noch die verpflichtende Abspeicherung von IP-Adressen, also die Abspeicherung von Verbindungsdaten von Kommunikationswegen, geregelt.

Auch wurden dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) bei der Massendatenauswertung sehr enge Grenzen gesetzt. Die aktuellen Regelungen lassen daher kaum eine effektive Aufklärung terroristischer Bestrebungen im Online-Bereich zu. Ohne die entsprechenden Gesetzesgrundlagen können diese Behörden weder effektivere Technologien einsetzen noch das entsprechende Fachpersonal einstellen. Eine erneute Anpassung der aktuellen Gesetzeslage ist daher dringend notwendig.

Die aktuelle politische Debatte zum Management von Migration in Deutschland ist überfällig. In den letzten Jahren ist immer wieder deutlich geworden, dass sowohl bei der Kontrolle der Zuströme als auch bei der Organisation der Abschiebung von Personen, welche kein Bleiberecht in Deutschland haben, mehr als dringender Reformbedarf besteht.

Es fehlt nicht nur an Kapazitäten. Administrative Prozesse sind vielschichtig, regelmäßig auf mehrere Behörden verteilt und daher langwierig und oft ineffektiv. Auch fehlt es an entsprechenden Rücknahmevereinbarungen mit Drittstaaten. Jedoch werden Reformen ausschließlich in diesem Bereich keine deutliche und nachhaltige Verbesserung der terroristischen Bedrohungslage in Deutschland erreichen.

Der Fall des Attentäters von München zeigt dies. Obwohl sein Asylgesuchen abgelehnt wurde, hatte er ein Bleiberecht in Deutschland und ist bis zum Anschlag den Polizeibehörden nicht durch Straftaten aufgefallen. Es bestand daher bis zum Attentat keine Möglichkeit, ihn abzuschieben.

Die erhöhte Terrorbedrohung in Deutschland verlangt, das an allen drei Stellschrauben, die Verpflichtung der sozialen Medien zur pro-aktiven Zusammenarbeit, eine Modernisierung der Rechtsgrundlage der Sicherheits- und Polizeibehörden und beim Migrationsmanagement gearbeitet werden muss. Die sechs Terroranschläge seit Mai 2024 in Deutschland machen deutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht.