Krank ohne Grund - Artifizielle Störungen: Symptome, Formen und Behandlungen

In der heutigen Zeit, in der psychische Gesundheit immer mehr an Bedeutung gewinnt, gibt es Erkrankungen, die sowohl Betroffene als auch medizinisches Fachpersonal vor besondere Herausforderungen stellen. Eine dieser Störungen sind die sogenannten artifiziellen Störungen, bei denen Patient

absichtlich Symptome hervorrufen oder vortäuschen, um ärztliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Dabei geschieht dies nicht aus Täuschungsabsicht im klassischen Sinn, sondern aus oft schwer zu entschlüsselnden psychologischen Bedürfnissen.

Was sind artifizielle Störungen?

Artifizielle Störungen, auch als „Factitious Disorders“ bekannt, umfassen psychische Erkrankungen, bei denen Betroffene Symptome absichtlich herbeiführen, übertreiben oder vortäuschen, um ärztliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Anders als bei der Simulation – bei der meist ein materielles Ziel wie Versicherungsleistungen im Vordergrund steht – ist bei artifiziellen Störungen das Ziel emotionaler oder psychologischer Natur.

Ein historischer Blick: Das Münchhausen-Syndrom

Artifizielle Störungen sind kein modernes Phänomen. Bereits im 19. Jahrhundert beschrieben Mediziner das Münchhausen-Syndrom als extreme Ausprägung dieser Störung. Patient

erzählten dramatische Geschichten über Krankheiten oder Verletzungen, die nie stattgefunden hatten. Der Name dieser Störung stammt vom „Lügenbaron“ von Münchhausen, bekannt für seine übertriebenen Abenteuer. In den 1970er Jahren wurde das Münchhausen-Syndrom schließlich als psychische Erkrankung benannt und ist seitdem Gegenstand intensiver Forschungen.

Epidemiologie: Wer ist betroffen?

Artifizielle Störungen sind selten und schwer zu diagnostizieren, da viele Fälle unerkannt bleiben. Schätzungen zufolge weisen etwa 0,1 bis 1 % der Patient

in Kliniken Symptome einer artifiziellen Störung auf. Besonders häufig tritt diese Störung bei Frauen mittleren Alters auf, vor allem, wenn sie selbst in medizinischen Berufen arbeiten. Es gibt jedoch kein einheitliches Profil, was die Diagnostik zusätzlich erschwert.

Ausdrucksformen der Störung: Beispiele und Varianten

Die Ausdrucksformen artifizieller Störungen sind vielfältig. Einige Betroffene verursachen Hautirritationen durch Chemikalien, andere täuschen Bauchschmerzen oder Übelkeit vor, um Untersuchungen wie Endoskopien zu rechtfertigen. Besonders schwere Fälle führen zu operativen Eingriffen aufgrund vorgetäuschter Symptome, beispielsweise Appendizitis. Eine besondere Variante ist das Münchhausen-by-proxy-Syndrom, bei dem Patient

die Symptome einer anderen Person, meist eines Kindes, manipulieren.

Krankheiten und Symptome bei artifiziellen Störungen

Artifizielle Störungen umfassen eine Vielzahl körperlicher und psychischer Symptome. Häufig täuschen Betroffene Beschwerden wie Bauchschmerzen, Fieber oder sogar Krampfanfälle vor. In manchen Fällen berichten sie auch von Halluzinationen oder depressiven Episoden. Entscheidend ist, dass diese Symptome bewusst manipuliert oder herbeigeführt werden, ohne dass eine entsprechende Grundlage besteht.

Einteilung der artifiziellen Störungen

Artifizielle Störungen werden oft in spezifische Kategorien unterteilt:

  • Münchhausen-Syndrom: Klassische Form mit dramatischen, oft erfundenen Krankheitsgeschichten und wiederholten Krankenhausaufenthalten.
  • Münchhausen-by-proxy Syndrom: Manipulation der Symptome einer anderen Person, häufig eines Kindes, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
  • Subtypen nach Symptomen: Die Störungen können nach vorgetäuschten Symptomen wie neurologischen oder gastroenterologischen Beschwerden kategorisiert werden.

Ursachen und psychologische Hintergründe

Die Ursachen artifizieller Störungen sind komplex und oft tief in der Persönlichkeit verankert. Häufig sind Betroffene durch ein niedriges Selbstwertgefühl, emotionale Vernachlässigung oder traumatische Erfahrungen in der Kindheit belastet. Zudem treten häufig Begleiterkrankungen wie Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen auf. Die Rolle des „Patienten“ bietet Betroffenen Aufmerksamkeit und Zuwendung, die ihnen im Alltag möglicherweise fehlen.

Diagnose: Die Herausforderung für Fachpersonal

Die Diagnose einer artifiziellen Störung ist anspruchsvoll, da Betroffene ihre Symptome bewusst manipulieren. Eine körperliche Untersuchung allein reicht oft nicht aus; geschultes Personal muss die psychologischen Hintergründe und wiederkehrende Muster erkennen. Ein multidisziplinärer Ansatz, der sowohl ärztliche als auch psychologische Expertise einbezieht, ist ideal. In der Regel ist eine längere Beobachtung erforderlich, bevor eine endgültige Diagnose gestellt wird.

Behandlungsmöglichkeiten: Psychotherapie und psychische Unterstützung

Die Behandlung artifizieller Störungen verlangt ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl. Psychotherapie hat sich als wirksam erwiesen, um die zugrunde liegenden psychischen Probleme zu adressieren und alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Die Therapie kann Gruppensitzungen oder familiäre Unterstützung umfassen. Wichtig ist ein nicht-konfrontativer Ansatz, da Konfrontation Widerstände und Symptomverstärkungen auslösen kann. In schweren Fällen, bei denen eine Gefahr für die Betroffenen oder andere besteht, kann eine stationäre Behandlung notwendig sein.

Folgen und Prognose

Die Folgen artifizieller Störungen sind gravierend. Die fortwährende Manipulation von Symptomen belastet die körperliche Gesundheit der Betroffenen und kann zu schweren physischen Schäden führen. Hinzu kommen psychosoziale Auswirkungen wie Isolation und Vertrauensverlust. Auch für das medizinische Personal stellt die Behandlung eine Herausforderung dar, da Unsicherheit und das Gefühl der Täuschung die professionelle Beziehung erschweren können.

Die Prognose variiert individuell. Einige Betroffene profitieren von einer gezielten Therapie und sind in der Lage, ihre Verhaltensmuster zu ändern. Bei anderen bleibt die Störung jedoch chronisch. Entscheidend für die Therapie ist die Zusammenarbeit zwischen psychotherapeutischem und medizinischem Fachpersonal, um eine umfassende und abgestimmte Behandlung zu gewährleisten.

Ein Weg zur Heilung: Verständnis und Empathie

Artifizielle Störungen sind komplexe und oft missverstandene Erkrankungen, die Betroffene in einem Kreislauf aus Täuschung und Leid gefangen halten. Verständnis und Einfühlungsvermögen seitens des medizinischen Personals sind zentrale Bausteine auf dem Weg zur Heilung. Mit Geduld und gezielter Therapie kann vielen Betroffenen geholfen werden, ihre Bedürfnisse auf gesündere Weise auszudrücken und ein erfüllteres Leben zu führen.

Über Dr. med. univ. Matyas Galffy

Dr. med. univ. Matyas Galffy ist Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Personzentrierter Psychotherapeut. Er studierte Humanmedizin und Klinische Neurowissenschaften an der Medizinischen Universität Innsbruck und absolvierte dort seine Facharztausbildung mit Schwerpunkt Psychosomatik. Neben einer Spezialisierung in fachspezifischer psychosomatischer Medizin hält der unter anderem Diplome in Palliativmedizin und spezieller Schmerztherapie. Zuletzt war er als ärztlicher Leiter der Spezialsprechstunde für Angst- und Zwangsstörungen an der Universitätsklinik Innsbruck tätig. Seither ist er als niedergelassener Arzt in Tirol und Niederösterreich tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Angststörungen, Schmerzstörungen und Psychotraumatologie.

Wichtiger Hinweis: Diese Informationen dienen nur der allgemeinen Aufklärung und ersetzen keine ärztliche Diagnose oder Behandlung. Bei Verdacht auf eine artifizielle Störung oder eine Verschlimmerung der Beschwerden wenden Sie sich bitte an medizinisches Fachpersonal.