Warum hat die Pflegeversicherung so massive Probleme?
Der größte Gegner der Pflegeversicherung ist die rapide Alterung unserer Gesellschaft. Zwar können auch junge Menschen zu Pflegefällen werden, doch fast 80 Prozent von ihnen sind mindestens 65 Jahre alt, ein Drittel sogar über 80. Durch den demographischen Wandel und die bessere medizinische Versorgung steigt die Zahl der Menschen in diesem Alter jedes Jahr an und damit auch die Zahl der Pflegebedürftigen. 1999 ging es noch um 2,02 Millionen Menschen, jetzt sind es fast dreimal so viele.
Entsprechend steigen auch die Kosten: 1997 lagen die Ausgaben der Pflegekassen noch bei umgerechnet 15,14 Milliarden Euro, 2010 waren es dann bereits 21,45 Milliarden Euro, 2022 dann rund 60 Milliarden Euro. Der Trend geht weiter: 2035 soll die Zahl der Pflegebedürftigen laut Statistischem Bundesamt auf 5,6 Millionen Menschen steigen, der Höhepunkt wird 2055 mit 6,8 Millionen erreicht. Das wäre gegenüber 2021 ein Anstieg um 37 Prozent.
Mit den Ausgaben ist zwar auch der Pflegeversicherungsbeitrag von ursprünglich 1,0 auf jetzt eben 4,0 Prozent gestiegen, aber das Geld reicht nicht aus. Die Pflegekassen schreiben seit Jahren Verluste. 2021 fehlten 1,4 Milliarden Euro, 2022 waren es 2,25 Milliarden Euro. 2023 könnte durch die Beitragserhöhung ein kleines Plus angefallen sein, doch dieses Jahr wird durch den Wegfall des Bundeszuschusses schon wieder eine Milliarde Euro fehlen. Die Vorständin des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK), Anne-Kathrin Klemm, sagte zuletzt, dass sie für 2025 ein Minus von 4,4 Milliarden Euro erwarte. Damit wären die Reserven der Versicherung aufgebraucht, sie stände vor der Pleite.
Also braucht die Pflegeversicherung einfach nur mehr Geld?
Nein. Zwar wird uns die Pflege immer mehr Pflegebedürftiger in Zukunft auch mehr Geld kosten als heute, aber dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass sich die Kosten seit 2010 fast verdreifacht haben, während sich die Zahl der Pflegebedürftigen lediglich verdoppelte. Oder anders gesagt: Kostete ein Pflegebedürftiger die Pflegekassen 2010 noch 8827 Euro im Jahr, liegt der Pro-Kopf-Durchschnitt jetzt bei 12.121 Euro, also fast 37 Prozent höher.
Das liegt zum einen daran, dass immer mehr sehr alte Menschen gepflegt werden, deren Betreuung etwa stationär teurer ist. Es liegt aber auch daran, dass es einfach zu wenig professionelle Pfleger und Pflegeheime gibt, deren Kosten daher immer weiter steigen – zuletzt etwa durch Gehaltserhöhungen, Mieten und Energiekosten. Und dann gibt es das Paradox, dass die Gesundheitskosten mit der Qualität der Leistungen steigen. Moderne Maßnahmen sind hoch effektiv, kosten aber auch deutlich mehr als früher.
Die Pflegeversicherung hat also nicht nur ein rein finanzielles, sondern auch ein strukturelles Problem.
Wie ließen sich die Probleme lösen?
Die finanziellen Defizite könnten etwa über höhere Beiträge abgebaut werden. Das lehnen aber alle Regierungsparteien ab. Die SPD schlägt vor, die private Pflegeversicherung, in der hauptsächlich gut verdienende Menschen mit hohen Beiträgen versichert sind, abzuschaffen und alle in die gesetzliche Versicherung zu zwingen. Ein zweiter Vorschlag ist, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, etwa auf das Niveau der Rentenversicherung. Deren Grenze liegt im Westen bei 90.600 und im Osten bei 89.400 Euro Jahreseinkommen.
Daneben gibt es ein paar kosmetische Vorschläge. Die Grünen wollen etwa mehr Steuermittel in die Hand nehmen. Die Pflegekassen selbst fordern, dass versicherungsfremde Leistungen nicht mehr von ihnen bezahlt werden sollen. Konkret geht es dabei um die Rentenversicherungsbeiträge pflegender Angehöriger, die rund acht Milliarden Euro im Jahr ausmachen. Würden diese aus Steuermitteln bezahlt, verbessert sich zwar die Bilanz der Pflegeversicherung, die des Bundeshaushalts verschlechtert sich aber im gleichen Maße – am Ende wäre es ein Nullsummenspiel.
Doch die Pflegekassen plädieren auch dafür, die Kosten zu senken. Das muss nicht zulasten der Versicherten gehen. Wichtiger seien zwei Dinge: Erstens müssten die Pflegekräfte besser verteilt werden. In kleineren Städten und auf dem Land fehlt es oft vor allem an ambulanten Angeboten, während es sich in Großstädten ballt. Das macht die Pflege auf dem Land aufwendiger und damit teurer. Außerdem solle die Bundesregierung mehr Geld in Prävention und Reha-Maßnahmen stecken. Damit ließe sich verhindern, dass viele Menschen überhaupt zu Pflegefällen würden, argumentieren die Kassen. Das wäre nicht nur gut für die Bilanz, sondern auch für die Menschen.
Daneben argumentieren sie wie auch Sozialverbände für einen zweiten Reformschritt: Bisher ist die Pflege eine Teilkaskoversicherung, Versicherte müssen immer auch einen Eigenanteil zahlen. Das führt aufgrund steigender Heimkosten vor allem bei stationär Bedürftigen zu immer höheren Kosten. Mittlerweile sind laut Sozialverbänden und Gewerkschaften wieder ein Drittel aller Heimbewohner auf Sozialhilfe angewiesen – genau das sollte durch die Pflegeversicherung eigentlich verhindert werden. Die Lösung wäre eine Pflegevollversicherung, bei der die Pflegekassen alle Pflegekosten übernehmen und der Staat aus Steuermitteln ergänzende Leistungen wie eben die erwähnten Rentenbeiträge und Ausbildungskosten trägt. Das ließe sich mit den von der SPD geforderten Maßnahmen ihrer Meinung nach auch finanzieren, wobei der Beitragssatz nur noch um weitere 0,1 bis 0,2 Prozent steigen müsste.
CDU und FDP sind ein Gegner einer solchen Vollversicherung. Obwohl sie beide einst in einer Koalition die Pflegeversicherung einführten, damit Menschen nicht privat die Kosten tragen müssen, fordern sie jetzt mehr private Vorsorge für die Pflege. Nur Menschen mit geringem Einkommen sollten dabei vom Staat unterstützt werden.