Gastbeitrag von Gabor Steingart - Verlässlich, aber vom Volk entfremdet: Die fünf Gesichter der Angela Merkel
„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Diese Erkenntnis verdanken wir dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard.
So gesehen ist der heutige 70. Geburtstag von Angela Merkel ein Tag des Verstehens. Wir schauen in den Rückspiegel der Geschichte. Der Pulverdampf der politischen Gefechte hat sich verzogen. Unverstellt können wir einen Blick auf ihr Lebenswerk werfen.
Die vollständige Würdigung werden die Historiker vornehmen müssen, zumal Merkels Sicht der Dinge unter dem Titel „Freiheit“ erst in Kürze erscheint. Aber eines lässt sich heute schon sagen: Wer von „der Merkel“ spricht, will betrügen, denn es gab mindestens fünf Frauen gleichen Namens.
Merkel #1: Die Überfliegerin
Als wir uns in Bonn zum ersten Spiegel-Interview trafen – sie 37, ich 29 – war mir nach wenigen Minuten klar, dass die mediale Etikettierung als „Kohls Mädchen“ nicht passte. Sie war kein Mädchen. Und sie war keine abhängig Beschäftigte des Pfälzers. Merkel in nur einem Wort: blitzgescheit.
Abitur mit 1,0. Dann Doktorarbeit in Physik mit „Magna Cum Laude“. Ihr Thema: „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Reaktionen in dichten Medien“.
Schmerzhaft kam mir bei unserer ersten Begegnung der eigene Physikunterricht in den Sinn, der in der Oberstufe trostlos mit einem Punkt endete, bevor ich das Fach (in Hessen!) endlich abwählen durfte.
Merkel #2: Die Ambitionierte
Die junge Politikerin – und erst recht die Oppositionsführerin Merkel – wollte sich mit dem Status Quo des Landes auf keinen Fall abfinden. Deutschland war damals der kranke Mann Europas. Die Agenda 2010 von Gerhard Schröder war im März 2003 beschlossen worden, aber wirkte noch nicht.
Angela Merkel spürte den Stillstand und trat an, ihn zu überwinden. In ihrer berühmten Rede vor der Konrad-Adenauer-Stiftung „Quo vadis, Deutschland?“ – gehalten am 1. Oktober 2003 – sagte sie:
„Wenn man sich heute umschaut in Deutschland, wenn man aufmerksam verfolgt, was und wie über unser Land berichtet wird, dann bin ich geneigt zu sagen: ,Quo vadis?‘ ,Wohin gehst du?‘ Davon kann eigentlich keine Rede sein. Unser Land steht.“
Und dann wurde sie deutlicher als deutlich:
„Die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft nimmt ab. Viele Einzelteile bewegen sich, aber das Ganze tritt auf der Stelle. In weiten Teilen der Gesellschaft, die Parteien schließe ich dabei ausdrücklich mit ein, fehlt der Wille zum Aufbruch.“
Wenige Monate später, im April 2004, erschien mein Buch „Deutschland: Der Abstieg eines Superstars“. Es brachte mir eine Platzierung auf der Spiegel-Bestseller-Liste und den Anruf von Angela Merkel – mit der Bitte um einen Gedankenaustausch.
Wir trafen uns im Konrad-Adenauer-Haus. Sie war neugierig. Sie wirkte entschlossen. Sie hatte anderthalb Stunden Zeit. Die CDU-Vorsitzende sagte mir frei heraus, sie interessiere sich für das Buch und dessen ökonomische Analyse, „weil ich etwas verändern möchte, wenn ich Kanzlerin bin.“
Merkel #3: Die Populistin der Mitte
Im November 2005 wurde sie Bundeskanzlerin. Ich war fest davon überzeugt, jetzt beginnt eine Ära der beschleunigten Reformen. Merkel war eine Wissende.
Aber nichts geschah. Merkel, die die Wahl nur knapp gewonnen hatte, begann ihre poröse Machtstellung zu befestigen. Sie blieb dem Status quo der Bundesrepublik verhaftet. Das Neuland, das sie versprochen hatte zu betreten, blieb unberührt. Prof. Paul Kirchhof, der als ihr Schattenfinanzminister im Wahlkampf für ein radikales Steuerkonzept geworben hatte, wurde in die Wüste geschickt.
Der Schock, dass sie das schlechteste Ergebnis der CDU seit 1949 geholt hatte, saß tief. Ihre Ambition, als Reformkanzlerin in die Geschichtsbücher einzugehen, war am Wahlabend erloschen. Und flammte nie wieder auf.
Sie verbündete sich mit den Frauen in der Union, mit den Sozialausschüssen, mit den Gewerkschaften und führte die eigenen Truppen auf das fruchtbare Weideland in der Mitte der Gesellschaft. Und auch auf den Ländereien links davon ließ sie CDU und CSU grasen.
Mit Fug und Recht könnte man auch sagen: Sie führte gar nicht. Sie folgte.
Die Deutschen wollten keine Reformen. Die Deutschen wollten keine Kernenergie. Die Deutschen wollten keine Aufrüstung und keinen Wehrdienst. Die Deutschen wollten Ruhe und Gemütlichkeit und nicht Aufruhr und Sozialstaatskürzung. Merkel wurde zum Garanten einer Stillstandsrepublik: ein weiblicher „Balu der Bär“.
Merkel #4: Die Verlässliche
In einer Welt des Wahnsinns, wo allerorten die Radikalen und die Emotionalen an die Macht gelangten, ging von Angela Merkel eine große Verlässlichkeit aus. Sie war nie Ego. Sie war immer Rolle. Wo sie war, war nicht Drama. Wo sie war, war Deutschland.
In ihren Adern floss Gleichstrom, derweil bei Trump, Putin und Erdoğan dauernd die Sicherungen rausflogen. Sie war die letzte Moderate, die nicht an den großen Wurf oder gar die Finalität der Geschichte glaubte.
In den Sternstunden ihrer Kanzlerschaft stand sie für Normalität, wissend, dass Normalität in Grautönen erscheint und nicht im Paillettenkleid. Sie wollte die Welt nicht mehr retten, sondern beruhigen. Europa zusammenhalten, Putin mäßigen, Deutschland vor Trump schützen.
Das war ihr Programm. „Die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft“, von der Helmut Schmidt sprach, wurde nun von ihr verkörpert. Sie war die neue Vorsitzende im Club für angewandte Realpolitik.
Der Merkel-Ton, der von Maß und Mitte erzählte, war ein warmer Ton. Er wurde weltweit vernommen. „Ich möchte so sein wie Sie“, hatte eine jordanische Studentin der Kanzlerin beim Staatsbesuch gesagt.
Merkel #5: Die Entfremdete
Ihr märchenhafter Aufstieg von der Oppositionsführerin über die Kanzlerin zur Staatsfrau hat sie von den Menschen in Deutschland entfremdet. Das Volk und Angela Merkel sprachen zuletzt nicht mehr dieselbe Sprache.
Sie sagte „Europa“, das Volk fühlte sich finanziell geschröpft; sie sagte „Willkommen“, das Volk dachte an das grausame Attentat vom Berliner Weihnachtsmarkt und die unschönen Szenen vor dem Kölner Hauptbahnhof. Sie hatte Argumente, das Volk hatte Ängste.
Plötzlich fühlte sie nicht mehr, was ihre Wähler fühlten. So entstand das, was der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Hans-Jürgen Papier später die „Repräsentationslücke“ nannte.
Nichts erinnerte jetzt mehr an jene Kanzlerin Merkel, die im Jahr 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam noch ausgerufen hatte:
„Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“
Die neue Merkel öffnete 2015 die Grenze, ließ 2015 und 2016 insgesamt über 1,2 Millionen Flüchtlinge ins Land, sodass die Behörden zeitweise den Überblick über das Grenzgeschehen verloren.
Sie hatte jetzt ein Herz für Zuwanderer, aber offenbar hatte sie kein Gefühl mehr für die Herzen derer, die ihre Heimat, ihre Gewissheiten und die Homogenität ihrer Kultur zu verteidigen suchten. Millionen ihrer Wähler wurden heimatlos, bevor sie zur AfD übersiedelten.
Fazit: Von Hannah Arendt stammt die Erkenntnis: „Die Revolutionäre machen nicht die Revolution! Revolutionäre sind diejenigen, die wissen, wann die Macht auf der Straße liegt und wann sie sie aufheben können!“
Angela Merkel hat das aufgehoben, was auf ihrer Straße lag. Es war die Macht, aber es war nicht die Sehnsucht nach einer deutschen Revolution.
So folgte sie 16 lange Jahre der Straße, die andere geteert hatten. Sie wurde müde und die Straße löchrig. Sie hat Fehler gemacht, aber sie war kein Fehler. Happy Birthday, Angela Merkel.