Nachhaltigkeit war für Nina Sturm schon seit ihrer Jugend ein wichtiges Thema, aber lange nur privat. Im Beruf machte sie eine ziemlich klassische Karriere: Nach dem Diplom in Betriebswirtschaftslehre, Marketing und Kommunikation kamen Stellen in der Unternehmenskommunikation. Bis 2022 war sie Head of Marketing in einem mittelständischen IT-Unternehmen.
Mit ihrer Arbeit war sie zufrieden, privat aber immer auf der Suche nach dem perfekten Kuhmilchersatz. Auf der Veggieworld, einer Berliner Messe für nachhaltige Ernährung, stieß sie auf den Haferdrinkproduzenten Havelmi. Deren Haferdrink schmeckte ihr, es gab ihn nur in Glasflaschen, und dass hinter Havelmi eine Genossenschaft stand, gefiel ihr auch. „Außerdem fand ich das Logo mit der Katze gut“, sagt Sturm, damals gerade im Mittelstandsmarketing aktiv. Also wurde sie im Jahr 2021 Genossin.
Niemand wollte Chef werden
Dann ging sie in Elternzeit. Sie schrieb das Genossenschaftsteam an und fragte, ob man sie als ehrenamtliche Hilfskraft im Marketingteam gebrauchen könnte. Als Job auf Dauer war das nicht gedacht. Nach der Elternzeit wollte sie in ihre alte Stelle zurückkehren und Havelmi nur in ihrer Freizeit weiter unterstützen. Und doch ist die heute 45-jährige inzwischen Vorstandsvorsitzende und verhandelt für Havelmi mit großen Supermarktketten. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Genossenschaft zu retten. Denn die stand kurz vor dem Aus.
Im Jahr 2021 wollte Havelmi eine ehemalige Fleischerei in Brandenburg an der Havel zu einer „veganen Molkerei“ umbauen, mit eigener Glasputzanlage. Dafür hatte eine Bank den Genossen einen Kredit zugesichert und den erste Teilbetrag schon ausgezahlt. Dann überfiel Russland die Ukraine, und die Haferpreise stiegen innerhalb eines Jahres um etwa 65 Prozent. Die Bank zog den Kredit zurück, Havelmi musste die erste Auszahlung wieder zurückgeben.
Obwohl das Produkt gut lief, stoppte Havelmi die Produktion, um sich neu aufzustellen. „Wir waren wirtschaftlich in einer äußerst angespannten Situation“, sagt Sturm. Die Genossenschaft zog zur Sicherheit schon einen Insolvenzanwalt hinzu. Gleichzeitig lief das Mandat der Vorstandsvorsitzenden aus, und Havelmi fand nicht auf Anhieb eine Nachfolge.
„So etwas findet man in keinem BWL-Lehrbuch“
Sturm saß zu dem Zeitpunkt im Aufsichtsrat. Der Vorsitzende fragte sie, ob sie sich auf den Posten bewerben würde. Es war keine leichte Entscheidung, sagt Sturm heute, weil die Lage so heikel war. Außerdem würde sie auf dem Posten deutlich weniger verdienen als in ihrem Job als Marketingchefin in der IT-Branche. „Aber das Produkt war mir wichtig“, sagt sie. „Im Team waren alle an Bord, wir wollten nicht einfach aufgeben.“ Deshalb entschied sie sich dazu, die Stelle anzunehmen. Außerdem war die Situation ja auch spannend. „So etwas findet man in keinem BWL-Lehrbuch.“
Im Nachhinein lastete die Verantwortung dann auch gar nicht so schwer auf ihr wie befürchtet. Sie ist zwar im Ernstfall als Vorstandsvorsitzende haftbar, aber Havelmi ist eine kleine Genossenschaft. Das Team besteht aus nur fünf Leuten und hat heute 220 Mitglieder. Als sie Freunden und Familie von ihrem Jobwechsel erzählte, waren die sehr beeindruckt von Sturms neuem Titel. Dabei fühlt sich die Position für sie viel bescheidener an.
Hafermilch im Abo
Um die laufenden Kosten zu decken, während Havelmi sich neu aufstellte, führten die Genossen ein Abo-Modell ein. Kunden bezahlen ihre Hafermilch vorab, können sie aber erst wieder regelmäßig im Laden abholen, sobald die Produktion wieder angelaufen ist. Einige Genossen gaben Havelmi auch Darlehen.
Für Sturm liegt es vor allem am Team, dass Havelmi die Krise überwunden hat. „Ohne die Ausdauer, den ungebremsten Optimismus und den Willen zu Überstunden hätten wir das nicht geschafft“, sagt sie. Auch dass Havelmi als Genossenschaft nicht rein renditeorientiert ist, hat geholfen. „Wir arbeiten nicht hart, damit irgendein Geschäftsführer viel Geld verdient, es ist unser eigenes Projekt.“
Gebrochen mit einem alten Credo
Mit der neuen Position kamen viele unbekannte Aufgaben auf Sturm zu. „Ich habe in der Zeit bei Havelmi mehr gelernt als in den Jahren davor“, sagt sie. „Wenn niemand da ist, den ich fragen kann, dann recherchiere ich und mache es halt einfach.“
Havelmi-Produkte gibt es mittlerweile in Bioläden und Supermärkten in Berlin, Brandenburg, im Ruhrgebiet und in Bayern. Das geht gegen die ursprüngliche Idee, ein regionales Produkt für einen lokalen Markt herzustellen. Für Sturm ist es aber wichtiger, dass Havelmi wirtschaftlich arbeitet. „Die Produktion lohnt sich erst dann, wenn wir größere Stückzahlen produzieren.“
Das dm-Problem
Es gibt aber auch Dinge, mit denen sie bewusst keine Kompromisse macht. Zum Beispiel beim Thema Verpackungen. „Würden wir Haferdrinks in Kartonverpackung verkaufen, könnten wir vielleicht zehn mal so viel verkaufen“, sagt sie, das habe ihr ein Produzent in Verhandlungsgesprächen gesagt. Läden, die den Haferdrink verkaufen wollen, brauchen dagegen ein Mehrweg-Pfandsystem. Sturm würde ihr Produkt zum Beispiel am liebsten in allen Filialen der dm-Drogeriemärkte in Deutschland sehen, aber dm hat nur Einwegpfand.
Während Sturm mit Läden und Supermärkten verhandelt, entwickelt das Havelmi-Team neue Produkte, neuerdings gibt es eine vegane Schokocreme im Mehrwegglas. Und bald sollen ein Haferkakao und eine Barista-Variante auf den Markt kommen.