Raúl Krauthausen spricht für die Rechte von Menschen mit Behinderung

  1. Startseite
  2. Bayern
  3. Augsburg & Schwaben
  4. Kurier Memmingen

Kommentare

Im Anschluss gab es eine Diskussionsrunde mit verschiedenen Gesprächspartnern zu dem Thema Inklusion, Freiheit und Teilhabe (v.l.): Ludger Escher (Geschäftsführer Unterallgäuer Werkstätten), Marcel Scheller (Selbstvertretungskreis Regens Wagner), Verena Gotzes (Vorsitzende Behindertenbeirat und Mitglied des Memminger Stadtrates), Frank Reinel (Vorsitzender Vereinigung Kommunaler Interessensvertreter für die Belange von Menschen mit Behinderung in Bayern), Regina Sproll (Moderatorin) und Raúl Krauthausen (sowie eine der beiden Gebärdensprachdolmetscherinnen, welche die gesamte Veranstaltung übersetzten). © Sophie-Isabel Gunderlach

Aktivist Raúl Krauthausen sprach in Memmingen über Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Im Anschluss an seine Lesung fand eine Podiumsdiskussion statt.

Memmingen – Raúl Krauthausen ist eine der bekanntesten Stimmen Deutschlands für Inklusion und für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft.

Der 45-Jährige ist Aktivist, Autor, Moderator und Speaker, hat beispielsweise eine weltweite digitale Karte barrierefreier Orte ins Leben gerufen oder einen Online-Ratgeber zum Thema Sprache und Behinderung verfasst. Sein Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“ ist ein Spiegel-Bestseller.

Krauthausen selbst hat die Glasknochenkrankheit, ist kleinwüchsig und nutzt einen Rollstuhl. Wobei er betont, dass es egal ist, warum sich jemand für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt oder welche Behinderung man selbst hat: „Wir schulden niemandem unsere Diagnose!“

Ende September las Raúl Krauthausen im vollbesetzten Antoniersaal aus seinem Buch vor. Im Anschluss gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema Behinderung und Freiheit.

Organisiert hatte den Abend der Memminger Behindertenbeirat in Kooperation mit dem Kulturamt im Rahmen des Jubiläumsjahres „500 Jahre Zwölf Artikel“.

Raúl Krauthausen spricht für die Rechte von Menschen mit Behinderung: Umfassende Definition von Inklusion

In seiner gut 45-minütigen Lesung machte Raúl Krauthausen deutlich, dass Inklusion sich für ihn nicht „nur“ auf Menschen mit Behinderung bezieht. Die beste und umfassendste Definition von Inklusion sei die seiner ehemaligen Grundschule in Berlin, der Fläming-Grundschule (diese hat bereits seit 1975 Integrationsklassen, in denen Kinder mit und ohne Behinderung unterrichtet werden): „Inklusion ist die Anerkennung und die Bewältigung von menschlicher Vielfalt.“

Denn diese Definition mache deutlich, so Krauthausen: „Inklusion hört nicht mit Behinderung auf.“ Als Beispiel nannte er das Thema Tod und wie dieses in unsere Gesellschaft inkludiert wird sowie das Thema Behinderung. Dies seien beides Themen, mit denen die meisten keine Berührungspunkte haben (bis sie selbst oder ihr Umfeld betroffen sind).

Denn auch das betonte Krauthausen: Die Annahme, dass es in Zukunft keine Menschen mit Behinderung mehr gebe, etwa aufgrund von medizinischen Fortschritten wie pränatalen Tests, sei falsch. „97 Prozent der Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben. Nur drei Prozent bestehen von Geburt an“, erklärte der Bestsellerautor.

Dabei wäre es laut dem Aktivisten für die Gesellschaft ein Gewinn, Menschen mit Behinderung in den Fokus zu rücken und als Vorbilder zu nehmen. „Menschen mit Behinderung haben Stärken, die Menschen ohne Behinderung nicht haben. Zum Beispiel sind wir aufgrund der Barrieren, die uns jeden Tag begegnen, resilienter.“

Raúl Krauthausen spricht für die Rechte von Menschen mit Behinderung: Barrierefreiheit als Standard

Wie kann man also Inklusion und das Thema Behinderung mehr in die Mitte der Gesellschaft rücken? Für Krauthausen steht fest, dass das nicht durch Sätze wie „Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken“ passiert, sondern durch Tatsachen.

Er nannte das Beispiel Spielplätze: Wenn ein neuer Spielplatz inklusiv gestaltet wird, sei das Integration. Wenn alle neuen Spielplätze inklusiv seien, sei das Inklusion. „Warum kann es nicht Vorschrift sein, dass alle neuen Spielplätze inklusiv sein müssen?“, warf er die Frage in den Raum.

Barrierefreiheit müsse genauso angewendet werden wie Brand- oder Denkmalschutz. Aussagen und Forderungen wie diese haben Raúl Krauthausen bekannt gemacht. Der Berliner begründet seine Haltung – und den manchmal erhobenen Vorwurf der Radikalität – mit folgender Aussage: „Wir treffen auf Strukturen, die von nichtbehinderten Menschen geschaffen wurden und in denen nichtbehinderte Menschen arbeiten und die von nichtbehinderten Menschen festgelegt werden. Die Partizipation von Menschen mit Behinderung ist eingeschränkt.“

Raúl Krauthausen spricht für die Rechte von Menschen mit Behinderung: Podiumsdiskussion mit Experten

In der anschließenden Diskussionsrunde stellten sich fünf Teilnehmende den Fragen von Regina Sproll (Stellvertretende Vorsitzende Behindertenbeirat und Beratungsstelle Offene Behindertenarbeit Regens Wagner):

  • Raúl Krauthausen,
  • Verena Gotzes (Vorsitzende Behindertenbeirat und Mitglied des Memminger Stadtrates),
  • Frank Reinel (Vorsitzender Vereinigung Kommunaler Interessensvertreter für die Belange von Menschen mit Behinderung in Bayern),
  • Marcel Scheller (Selbstvertretungskreis Regens Wagner) und
  • Ludger Escher (Geschäftsführer Unterallgäuer Werkstätten).

Eine Frage war beispielsweise, was Freiheit für die einzelnen Teilnehmenden bedeutet. Die Fünf waren sich einig, dass Freiheit für sie bedeute, so zu leben, wie sie es wollen, und das zu tun, was sie wollen.

Raúl Krauthausen spricht für die Rechte von Menschen mit Behinderung: Kontroverse um Werkstätten

Eine Nicht-Einigkeit herrschte zwischen Raúl Krauthausen und Ludger Escher beim kontroversen Thema Werkstatt.

Circa 300.000 Menschen mit Behinderung arbeiten deutschlandweit in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Kritiker monieren, dass kein Mindestlohn für die Beschäftigten bezahlt werde und deren Gehalt zu niedrig sei.

Escher betonte, dass Werkstätten ein wichtiger Raum für Menschen mit Behinderung seien, in dem sie Sicherheit und Anerkennung erfahren würden. Viele, die dort arbeiten, würden ohne das System Werkstatt keiner Arbeit nachgehen können. Und auch beim Thema Entgelt sei für die Werkstätten klar, dass der Lohn insgesamt erhöht werden müsse, wenn auch die Zahlung des Mindestlohns aus wirtschaftlicher Perspektive nicht stemmbar sei.

Raúl Krauthausen spricht für die Rechte von Menschen mit Behinderung: Inklusive Arbeitsplätze als Alternative

Krauthausen hielt dagegen, dass Werkstätten für jeden Beschäftigten monatlich einen Zuschuss vom Staat bekommen würden. Wäre es nicht besser, dieses Geld für die Schaffung inklusiver Arbeitsplätze, wo möglich, am ersten Arbeitsmarkt und mit höherem Lohn einzusetzen, fragte der Aktivist.

Bemerkenswert war, dass sowohl Krauthausen als auch Escher Argumente für ihre Position hatten und, obwohl sie unterschiedliche Standpunkte vertraten, respektvoll und anerkennend mit der Sicht des anderen umgingen.

Mit dem Kurier-Newsletter täglich zum Feierabend und mit der neuen „Kurier“-App immer aktuell über die wichtigsten Geschichten informiert sein. Besuchen Sie den Memminger KURIER auch auf Facebook!