Pharma und Rüstung: Die letzten Jobmotoren Deutschlands?

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Pharma und Rüstung schaffen Jobs, während andere Branchen abbauen. Doch der Fachkräftemangel bedroht das Wachstum. Ein kritischer Blick auf die Realität.

Berlin/Köln – Während viele deutsche Industriezweige mit Stellenabbau und Standortverlagerungen kämpfen, präsentiert sich die Pharmaindustrie als strahlender Ausnahmefall. „Neben der Rüstungsindustrie ist die Pharmabranche die einzige Industrie, die derzeit Arbeitsplätze in Deutschland schafft“, erklärte Han Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Arzneimittelindustrie (VfA), gegenüber der Wirtschaftswoche.

Die Zahlen scheinen Steutels Aussage zu stützen: Rund 15.000 neue Arbeitsplätze sind laut VfA in den vergangenen Jahren durch große Pharmakonzerne in Deutschland entstanden. Internationale Konzerne wie Roche, Daiichi Sankyo, Sanofi oder Eli Lilly investieren derzeit Milliarden in deutsche Standorte. Allein die Gesamtausgaben summieren sich auf rund sechs Milliarden Euro.

Politische Kehrtwende ermöglicht Investitionsboom trotz Krise: Die Pharmaindustrie als Arbeitsplatz-Magnet

Der aktuelle Boom ist bemerkenswert, wenn man die düsteren Prognosen von vor drei Jahren betrachtet. 2022 verabschiedete die Ampel-Regierung das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz aus dem Hause des damaligen Gesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD), das die Medikamentenhersteller zu einem jahrelangen Preismoratorium und höheren Rabatten an die Krankenkassen verpflichtete. „Die Stimmung in unserem Präsidium war düster“, erinnert sich VfA-Präsident Steutel. Zwei Verfassungsbeschwerden von pharmazeutischen Unternehmerinnen gegen die Preisregulierungsmaßnahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes hatten kürzlich keinen Erfolg – sie wurden vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen.

Dennoch verzeichnet die Pharma-Industrie derzeit massiven Aufwind. Grund dafür ist unter anderem das vom Bundestag beschlossene Medizinforschungsgesetz. Es zielt darauf ab, Deutschland als Standort für medizinische Forschung zu stärken, indem es klinische Prüfungen, Zulassungsverfahren und den Zugang zu Forschungsdaten vereinfacht. Es fördert durch engere Zusammenarbeit der Arzneimittelbehörden effizientere Verfahren und schafft verlässliche Rahmenbedingungen für innovative Arzneimittelentwicklungen. Für die großen Pharmakonzerne war es das Signal, auf das sie gewartet hatten. In einem Statement erklärte VfA-Präsident Steutel: „Wir brauchen Vertrauen und Planungssicherheit, um auch weiterhin hierzulande zu investieren – gerade angesichts internationaler Unsicherheiten.“

Konkurrenz um Talente verschärft sich: Regionale Unterschiede verschärfen Problematik

Doch trotz des Investitionsbooms steht die Branche vor erheblichen Herausforderungen. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fehlen in pharmarelevanten Berufen bundesweit 176.000 Fachkräfte: „Jede vierte offene Stelle in der Pharmaindustrie kann nicht besetzt werden“, zeigt das IW-Gutachten vom Oktober 2024. Besonders dramatisch ist die Situation in der Produktion: Hier können für fast acht von zehn offenen Stellen deutschlandweit rechnerisch keine passend qualifizierten arbeitslosen Akademiker gefunden werden. Im IT-Segment herrscht eine ähnliche Knappheit.

Die Fachkräfteengpässe treffen nicht alle Regionen gleich stark. Besonders angespannt ist die Situation in den südlichen Clustern Oberbayern und an der Schweizer Grenze, wo 46 beziehungsweise 51 Prozent der offenen Stellen in pharmarelevanten Berufen rechnerisch nicht mit passend qualifiziertem Personal besetzt werden können. Hauptverantwortlich für die Stellenbesetzungsschwierigkeiten sind im Wesentlichen 15 Einzelberufe, die sich entlang der gesamten pharmazeutischen Wertschöpfungskette verteilen. Drei Viertel der branchenspezifischen Fachkräftelücke entfallen damit auf knapp ein Fünftel der identifizierten Engpassberufe.

Ein zentrales Problem: Die Pharmaindustrie steht bei vielen Berufen in starker Konkurrenz mit anderen Wirtschaftszweigen um die wenigen verfügbaren Fachkräfte. Dies betrifft vor allem Berufe aus dem Digitalisierungsbereich wie Informatik oder Wirtschaftsinformatik, aber auch Arbeitskräfte in Berufen, die für die Aufrechterhaltung der Produktion notwendig sind.

Die Rüstungs- und die Pharmaindustrie mag derzeit einer der wenigen Lichtblicke am deutschen Arbeitsmarkt sein, doch ohne strukturelle Reformen droht auch diesen Sektoren mittelfristig die Luft auszugehen. © IMAGO / Wolfilser

Strukturwandel der deutschen Schlüsselindustrien: Aufrüstung als neuer Wachstumstreiber der Industrie

Ähnlich dynamisch verhält es sich bei der Automobil- und Rüstungsindustrie. Hier sind vor allem technisch und ingenieurwissenschaftlich ausgebildete Fachkräfte gefragt. Und während Konzerne wie Volkswagen tausende Stellen abbauen, können sich Rüstungsproduzenten wie Rheinmetall derzeit vor Bewerbungen kaum retten. Der VW-Konzern setzt hingegen derweil auf Sparprogramme.: Rund 20.000 Beschäftigte haben bereits bei VW einem freiwilligen Jobverzicht zugestimmt. Bis 2030 sollen dort insgesamt 35.000 Stellen wegfallen – ein Viertel der gesamten deutschen VW-Belegschaft.

„Mit dem sozialverträglichen Stellenabbau beschleunigen wir unsere Transformation“, sagte VW-Personalvorstand Gunnar Kilian im Juni 2025. Auch eine Vier-Tage-Woche sei für einige Standorte bereits in Diskussion. Grund dafür ist unter anderem die Produktionsverlagerung ins Ausland, etwa nach Mexiko – ein Rückschlag für den deutschen Industriestandort. Auch die Autozulieferer bleiben nicht verschont: Bosch streicht beispielsweise in Schwäbisch Gmünd 1300 Stellen. Die Automobilbranche steckt in einer tiefen Strukturkrise – und sucht Auswege. Die Lösung scheint für viele in der Rüstungsindustrie zu liegen. Zahlreiche Autozulieferer in die Verteidigungsproduktion ein. Peter Hodapp, Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens, fertigt heute statt Autoteile Komponenten für Bundeswehrkasernen: „Weil es ganz klar ein Zukunftsmarkt ist“, erklärte er gegenüber dem ZDF. (ls)

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