„Supermarktbesuch für viele eine Qual“: Edeka und ADHS-Expertin starten besondere Aktion
Einfach in Ruhe einkaufen: Die neue Aktion hat einen ernsten Hintergrund. 60 Minuten lang werden Blinken, Musik und Durchsagen im Edeka verboten.
Wolfratshausen - Die Stimme ist laut, sie ist schrill – und das soll sie auch sein: „Wo gibt‘s denn sowas? Im Kühlregal“, krakeelt sie aus den Lautsprechern im Edeka-Supermarkt. „Den meisten Leuten fällt das gar nicht mehr auf“, weiß Gerty Schoelen, die im Eingangsbereich des Vollsortimenters an der Sauerlacher Straße steht, zwischen Schnittblumen und Aktionsprodukten aus Ton und Holz. „Wir können das ausblenden – viele Menschen können das aber nicht.“ Sie spricht von ADHS-Betroffenen, Menschen mit Autismus und Hochsensiblen zum Beispiel. „Für die ist jeder Supermarktbesuch eine Qual.“ Schoelen möchte eine Oase der Ruhe schaffen. Mit einem Versuch im Edeka-Markt geht das los: An den kommenden vier Mittwochen wird der Vollsortimenter ruhiger. Geschäftsführer Mario Sostaric macht bei der Idee von Gerty Schoelen mit.
Blinken, Musik und Durchsagen: „Wir blenden das aus“
Die steht in seinem Supermarkt, blickt vorbei an grünen und roten Lämpchen auf eine Familie, die sich über zwei Regalreihen hinweg über den Einkauf unterhält. Sie sieht Angebotsschilder, alles ist hell erleuchtet. Sie hört Radiomusik – „Espresso“ von Sabrina Carpenter, aber darauf achtet kaum jemand – und erkennt, wie viel ein normaler Einkauf von ADHS-Betroffenen abverlangt. Schoelen weiß das, weil sie sich seit vielen Jahren mit Betroffenen auseinandersetzt. Derzeit führt sie in Wolfratshausen zwei Selbsthilfegruppen für Erwachsene, die am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom leiden – manche mit Hyperaktivität. „Die Betroffenen, die ich kenne, versuchen nur so schnell es geht, wieder rauszukommen aus den Geschäften.“ In der „Stillen Stunde“ sollen sie genussvoll einkaufen können – zumindest genussvoller als üblich.
Stille Stunde: Im Edeka geht‘s mittwochs deutlich ruhiger zu
Mario Sostaric weiß, wie erschlagend die Geräuschkulisse manchmal sein kann, wenn der Laden voll ist: „Das sind nicht nur die Lautsprecher.“ Da piepsen die Kassen, Mitarbeiter sprechen Durchsagen, die Rolltreppe klackert, Einkaufswagen fahren über den Boden und Menschen rufen sich etwas zu. „Ich merke den Unterschied immer, wenn ich mal sonntags hier und alleine im Laden bin.“ Auf die Akustik eines leeren Supermarkts könne er den Betrieb auch in der stillen Stunde nicht reduzieren, „aber wir probieren, was geht“. So möchte er das Geräusch der Piepser an der Kasse auf ein Minimum zurückfahren, die Lautsprecher werden ausgeschaltet und das Licht wird deutlich reduziert. Es wird nicht totenstill sein, weil ja immer noch Menschen einkaufen, sagt Schoelen, „aber es ist trotzdem viel, viel angenehmer für einige Leute“.
Denn nicht nur ADHS-Betroffene würden etwas mehr Ruhe genießen. „Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die der übliche Geräuschpegel stresst und die es schön finden, wenn es leiser ist.“ Sostaric hat die Erfahrung gemacht, als sein Radio eine Zeit lang nicht funktionierte. „Da kamen ein paar Leute und haben das sehr gut gefunden. Andere haben mich gefragt, warum es keine Musik gibt, die sie sonst so gerne hören.“
Vier Versuchsstunden im ruhigen Supermarkt
Bei der stillen Stunde handelt es sich um einen Versuch. Viermal richtet der Edeka am Bahnhof eine solche Aktion aus – immer mittwochs um 15 Uhr. Anfangs sollen die Lärmquellen für eine Stunde ausgeschaltet werden. „Wenn es länger gewünscht wird von der Mehrheit, dann können wir auch mal zwei Stunden ausprobieren.“ Dann wollen Schoelen und Sostaric schauen, was es gebracht hat. Für den Marktbetreiber misst sich der Erfolg der Aktion nicht in Euro. „Ich rechne nicht damit, dass auf einmal 1000 neue Kunden vor der Türe stehen. Ich möchte mit dem Projekt Leuten helfen und es ihnen angenehmer machen.“ Wie die Resonanz sein wird, wenn er am Mittwoch um kurz vor 15 Uhr den Lautsprecherkopf drückt, darauf ist der Inhaber gespannt. Schoelen freut sich darauf. „Ich habe in allen ADHS-Gruppen geworben, die ich kenne. Die Leute sind schon sehr gespannt.“ Eine ähnliche Initiative gebe es in der Region bisher nicht.