„Das rächt sich“: Warum die EU an Putins Grenzen schwächelt – und was helfen könnte
Schwindet die „Soft Power“ der EU an Russlands Außengrenzen? Die jüngsten Entwicklungen geben zu denken. Zwei Außenpolitiker erklären die Lage.
50,46 Prozent: Sehr viel knapper kann ein Referendum nicht ausgehen. So aber lautete das Ergebnis von Moldaus Abstimmung über eine Verankerung der EU-Annäherung in der Verfassung. Das Ziel EU hat also eine Mehrheit in dem kleinen Land zwischen Ukraine und Rumänien. Aber die ist hauchdünn. Drängt sich die Frage auf: Was ist da los? Ist Europa nicht mehr attraktiv – ausgerechnet wenige hundert Kilometer entfernt von der Front im Ukraine-Krieg?
Zwei EU-Politiker aus der an Einblicken reichen Euronest-Delegation (siehe Infokasten) haben auf diese Frage im Interview mit IPPEN.MEDIA in Brüssel eher unangenehme Antworten parat: Europas „Soft Power“ bestehe gegen Russlands „brutale Hard Power“ nicht, sagt der Grüne Sergey Lagodinsky. Zugleich seien einige Argumente für die EU aus dem Blick geraten. Lagodinskys estnische Parlamentskollegin, die Ex-Diplomatin Marina Kaljurand, warnt indes vor Russlands „Gehirnwäsche“.
Ukraine-Krieg ein „Abschreckungsbeispiel“ für potenzielle Partner der EU: „Überleben“ an Russlands Grenze
„Wir sollten es uns nicht zu einfach machen und sagen, die Ergebnisse seien allein Effekt russischer Propaganda“, mahnt Lagodinsky. Stimmenkauf habe es etwa in Moldau zwar gegeben und sei zu Recht verfolgt worden. „Aber die eigentliche Herausforderung ist, dass die EU in den Augen der Bevölkerung in Moldau und auch Georgien in Sachen Sicherheit nicht verlässlich ist.“
Die „Euronest“-Delegation der EU
Der Name „Euronest“ klingt skurril – dahinter aber verbirgt sich ein wichtiges Gremium. In der „Parlamentarischen Versammlung (PV) Euronest“ treffen sich 60 Europaparlamentarier mit je zehn Abgeordneten aus fünf osteuropäischen Ländern: Neben Ukraine, Moldau und Georgien sind das Armenien und Aserbaidschan. „Euronest“ ist also ein wichtiger Ort des Austauschs mit Nachbarn Russlands. Die EU-Parlamentarier in der PV sind die „Delegation Euronest“. Ihr sitzt seit Sommer Lagodinsky vor, Kaljurand ist seit 2019 Mitglied.
In beiden Ländern prägten Warnungen vor einer Konfrontation mit Russland den Wahlkampf. Und das nicht ohne Grund, wie Lagodinsky meint. „Da rächt sich, dass wir die Ukraine halbherzig unterstützen“, urteilt er. „Das ist jetzt ein Abschreckungsbeispiel für alle, die ihre Bevölkerung einschüchtern wollen.“ Ein Problem, das wohl mit Donald Trumps Amtsantritt nicht leichter verdaulich werden wird.
„Die Frage, ob Europa bei einem Angriff Russlands beistehen würde, ist legitim. Und sie ist nicht beantwortet“, fügt Lagodinsky hinzu. Der Ukraine-Krieg sei insofern nicht nur ein Konflikt um die Ukraine – sondern auch um die Glaubwürdigkeit der EU als Zielpunkt vieler Hoffnungen: „Für die Menschen, die an den Berührungspunkten von Russland und EU leben, geht es ums Überleben“, betont er. Nun müsse man gucken, wie man Macht spürbar machen könne. So, dass sich Menschen „sicher fühlen, wenn sie sich für Europa entscheiden“.
Russland oder EU? An Putins Grenzen tobt ein Richtungsstreit – Brüssel hätte einen Trumpf für Minderheiten
Freilich liege das Problem nicht allein im Ukraine-Krieg begründet. Lagodinsky verweist auch auf „Wohlstandsvorteile“, die sich viele Menschen etwa in Moldau schnell von der EU erhofften – die bisher angesichts von Armut, Inflation und hohen Energiepreisen aber noch nicht greifbar geworden seien. Ein entsprechendes Programm aus Brüssel sei zu spät für die Wahl gekommen.
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Dann ist da noch der Umgang mit den Minderheiten in Moldau. In der autonomen Region Gagausien etwa haben Moldaus im Stechen wiedergewählte Präsidentin Maia Sandu und die EU einen enorm schweren Stand. Dabei hätte die EU einen Trumpf für die Menschen dort parat, wie Lagodinsky meint. „Europa lebt auch vom Minderheitenschutz und von der Idee des Europa der Regionen“, sagt er. Sandu brauche bis zur Parlamentswahl 2025 eine „Strategie“ für die Minderheiten. „Auch die sind Wählerinnen und Wähler“, betont Lagodinsky.
Putins „Gehirnwäsche“ und Kriege: Moldau und Georgien „für immer Russlands Hinterhof“?
Kaljurand, ehemalige Außenministerin, Russland- und USA-Botschafterin Estlands, verweist auf Desinformation-Kampagnen aus Russland. Der Kreml sei „exzellent“ und „sehr, sehr erfolgreich“ im Geschäft der Gehirnwäsche, sagt die Sozialdemokratin. Das habe der Westen lange nicht verstanden. Lagodinsky sieht das Problem durchaus auch.
„Diese Staaten sind keine Schachfiguren, sondern haben ihre eigene Zukunft“, betont er zwar. „Aber natürlich: Wenn Russland seinen Einfluss mit manipulativen Mitteln vergrößert, dann verlieren wir ein Stück Glaubwürdigkeit – denn das wird als eine Niederlage für Europas Soft Power in die Geschichte eingehen.“ Auf die – also die Attraktivität der EU-Gesellschaft, auf kulturellen und wirtschaftlichen Einfluss – verlasse sich die EU zu sehr. „Wenn Russland agiert wie in der Ukraine oder in Georgien 2008, können wir nicht mithalten“, sagt Lagodinsky. Angesichts roher Gewalt verblassten etwa die Verlockungen von Freizügigkeit.
Kaljurand fürchtet, dass Moldau und Georgien eine seltene Gelegenheit verpassen. „Ohne den Krieg in der Ukraine würden wir einen Kandidatenstatus oder Beitrittsverhandlungen gar nicht diskutieren“, meint sie. „Das Blut der Ukrainer hat ihnen diese Gelegenheit gegeben.“ Schließe sich dieses Fenster, sei nicht auszuschließen, dass diese Länder „für immer Russlands Hinterhof bleiben“. Gerade der Kurs der georgischen Regierung sei schwer zu verstehen.
Die Chance nicht verstreichen zu lassen, sei aber die eigene Verantwortung Moldaus und Georgiens. „Ich habe versucht, den Politikern dort zu erklären: Niemand lädt sie in die EU ein. Uns hat auch niemand eingeladen“, sagt die Estin. „Aber es war unsere Entscheidung, Teil des Clubs zu werden. Mit denen zu sein, die dasselbe Weltbild, dieselben Prinzipien teilen.“ Wer aber Club-Mitglied werden wolle, müsse tun, „was der Club verlangt“. Dabei gehe es nicht darum, Checklisten abzuhaken, sondern echte Reformen zu liefern. „Nicht nur des Clubs willen, sondern zum Wohle der eigenen Bevölkerung.“ Diese Erkenntnis müsse nun durchdringen. (Aus Brüssel berichtet Florian Naumann)