Eklat im Weißen Haus - Verhandlungsexperte über Selenskyj: „Eigene Leute haben ihn im Regen stehen lassen“
Es war ein Abend, der in die Geschichtsbücher eingehen könnte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump, das Staatsoberhaupt der USA, trafen sich zum Gespräch.
Es sollte um ein Abkommen zur gemeinsamen Förderung von wertvollen Bodenschätzen, darunter seltene Erden, in der Ukraine gehen. Rund 40 Minuten lang verlief das Treffen friedlich, Journalisten konnten Fragen stellen. Dann verwandelte sich der Austausch in ein Wortgefecht - vor laufenden Kameras.
Zu sehen war, wie Trump und sein Vize J.D. Vance Selenskyj zurechtwiesen. Der US-Präsident warf seinem Gegenüber unter anderem vor, undankbar zu sein, was die Unterstützung der USA im Ukraine-Krieg betrifft. „Es wird schwer sein, auf diese Weise ins Geschäft zu kommen“, sagte Trump. Selenskyj solle seine Haltung ändern.
Trump: „Sie halten im Moment nicht die Karten in der Hand“
„Sie haben sich in eine sehr schlechte Lage gebracht. Sie halten im Moment nicht die Karten in der Hand“, war nur eine von mehreren Aussagen, mit denen der US-Präsident deutlich machte, dass er sich in der stärkeren Position sieht.
Schließlich brach Trump das Treffen ab. „Ich denke, wir haben genug gesehen“ sagte er. Und, an die Presse im Raum gerichtet: „Das wird großartiges Fernsehen sein, das kann ich Ihnen sagen.“
Klemens Fischer, Sicherheits- und Außenpolitikexperte an der Universität in Köln, war entsetzt, als er mitbekam, was sich da im Weißen Haus abspielte, wie er im Gespräch mit FOCUS online erklärt.
Fischer weiß, wie diplomatische Gesprächsrunden normalerweise ablaufen. Von 1993 bis 2022 war er Angehöriger der österreichischen EU-Botschaft in Brüssel, zuletzt hatte er den Rang eines Gesandten und Abteilungsleiters inne.
„Die eigenen Leute haben Selenskyj im Regen stehen lassen“
In dieser Zeit nahm er, etwa als Mitglied des österreichischen Beitrittsverhandlungsteams und der Gruppe der Regierungsvertreter für den Vertrag von Nizza, an entscheidenden Verhandlungen der europäischen Integration teil. Gerade deshalb ist Fischer so erschüttert über die Auseinandersetzung, die sich Trump und Selenskyj am Freitagabend lieferten.
„Ich habe mich wirklich gefragt, wer den ukrainischen Präsidenten beraten hat. Das fängt schon damit an, dass er keinen Dolmetscher dabei hatte“, sagt er. Das sei eigentlich Usus.
„Dolmetscher sind - neben der rein sprachlichen Vorteile - auch dazu gut, Zeit zu gewinnen. Zeit, um sich Antworten zu überlegen, die sitzen“, meint Fischer. Ein anderer Punkt, der den Außenpolitikexperten schockierte, war das Verhalten von Selenskyjs Begleitern. Als das Gespräch mit Trump und seiner Mannschaft aus dem Ruder lief, griff niemand ein.
„Hinter Selenskyj saß seine Botschafterin, die irgendwann den Kopf in die Hände legte. Sie wusste, dass das Gespräch beendet ist“, so Fischer. Trotzdem fiel ihr nicht der sprichwörtliche Bleistift auf den Boden - laut dem Außenpolitikexperten eigentlich ein übliches Manöver, um verfahrene diplomatische Situationen zu retten, eben als Vorwand, sich vorzubeugen und etwas „einzuflüstern“.
Selenskyj machte offenbar gravierende Fehleinschätzung
„Das hat mich wirklich verblüfft. Die eigenen Leute haben den ukrainischen Präsidenten im Regen stehen lassen. Vielleicht auch aus Scheu, Selenskyj zu korrigieren“, sagt er.
Fischer hat sich über den Eklat auch mit ukrainischen Quellen beschäftigt. Demzufolge war Selenskyj offenbar überzeugt, den amerikanischen Präsidenten „um den Finger wickeln zu können und weitere Unterstützung zu bekommen“. Vielleicht dachte er, er könne Trump auf seine Seite ziehen und ihm deutlich machen, dass „Sich-Wehren“ auch eine legitime Handlung ist.
Eine schwere Fehleinschätzung, wie sich jetzt gezeigt hat. „Man kann es so sagen: Selenskyj ist in ein offenes Schwert gerannt, und Vance und Trump haben in aller Brutalität zugeschlagen.“ In Fischers Augen steht fest: Hier saßen sich keine Gesprächspartner auf Augenhöhe gegenüber. Und, dass Selenskyj jetzt mit dem Rücken zur Wand steht.
„Militärisch können wir in Europa nichts leisten, was den Frontverlauf auch nur ansatzweise unmittelbar ändern würde“, sagt er. „Selenskyj hat das Pech, dass er auf die falschen Verbündeten gesetzt hat. Und es geht nicht nur um Europa. In Trumps Augen hat er sich im US-Wahlkampf für Kamala Harris stark gemacht.“
Zwei Gründe, aus denen das Treffen eskaliert ist
Für Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland an der Freien Universität Berlin, gibt es zwei Gründe, aus denen das Gespräch im Oval Office eskaliert ist.
Zum einen Trumps Wahrnehmung des Ukraine-Krieges: Wie Libman im Gespräch mit FOCUS online erklärt, ist er für den US-Präsidenten - im Gegensatz zu seinen Vorgängern und vielen europäischen Politikern - „lediglich ein Konflikt von vielen, die es in der Welt gibt, und der keine unmittelbare Bedrohung für die USA darstellt“.
Von einer Schlichtung verspreche sich Trump sowohl internationale Anerkennung als „Peacemaker“ als auch die Gunst seiner Anhänger, denn das schnelle Ende des Ukraine-Kriegs gehörte bekanntlich zu seinen Wahlversprechen.
„Dazu kommt, dass Trump Selenskyj persönlich sehr negativ gegenübersteht.“ Wie Libman erklärt, sieht der US-Präsident die Unterstützung der Ukraine als eine humanitäre Geste, für die man dankbar sein sollte. Das bedeutet auch, dass weitere Forderungen unerwünscht sind.
„Selenskyj hat versucht, mit Trump auf dieselbe Art und Weise zu reden wie mit vielen europäischen Staatsoberhäuptern. Er fokussiert sich auf moralische Argumente, stellt Forderungen, und im aktuellen Fall tat er das auch öffentlich vor Fernsehkameras. Das konnte nicht funktionieren.“
Situation zwischen Trump und Selenskyj weiter angespannt
Die Frage ist: Was passiert jetzt? Ist eine Lösung im Ukraine-Krieg damit in weite Ferne gerückt? Selenskyj sagte im Gespräch mit „Fox News“ kurz nach dem Eklat, er werde sich für sein Verhalten nicht entschuldigen. Trump wirft ihm unterdessen vor, keinen Frieden zu wollen.
Der US-Präsident drohte außerdem damit, die Ukraine im Kampf gegen Russland nicht weiter zu unterstützen, sollte es zu keiner Einigung mit Kremlchef Wladimir Putin kommen. „Sie werden entweder einen Deal machen oder wir sind raus“, sagte er.
Fischer glaubt, dass Trump damit „leider Recht hat“. „Unterm Strich werden wir damit leben müssen, dass die Russen mit ihrem Manöver durchkommen“, so der Außenpolitikexperte. Auch Libman meint, dass die Ukraine durch Selenskyjs Verhalten in Washington „jetzt leider viel verloren hat“.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine den Krieg wirklich verliert, oder umfangreiche Zugeständnisse machen wird, sei größer, nicht kleiner geworden. „Selenskyj wollte den Diktatfrieden vermeiden - aber genau der könnte jetzt kommen“, so der Osteuropa-Experte, der selbst aus Moskau stammt.
Inszenierter Eklat? „Es wirkt, als hätte man Selenskyj vorführen wollen“
Dass der Eklat im Weißen Haus rein zufällig entstanden ist, wird bisweilen bezweifelt. Sascha Lohmann von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), zu dessen Forschungsgebieten transatlantische Beziehungen gehören, sagt zu FOCUS online: „Es scheint mir nicht gänzlich ausgeschlossen, dass das inszeniert war.“
Was er meint, ist: Viele der Fragen, die während der Pressekonferenz an den ukrainischen Präsidenten gerichtet wurden, wirkten provokant, fast so, als hätte man „Selenskyj vorführen wollen“.
Trotzdem glaubt Lohmann, dass das Wortgefecht auch für den US-Präsidenten emotional war. „Es sah so aus, als hätte er einen echten Wutanfall bekommen. Und genau das könnte bedeuten, dass eine Einigung mit Selenskyj nahezu unmöglich wird.“
„Trump bereitet den Boden für einen neuen Umgang mit der Ukraine“
Letztlich scheint klar: Der ukrainische Präsident will kein Rohstoffabkommen ohne Sicherheitsgarantien der USA unterschreiben. Trump sieht das anders. Noch läuft die amerikanische Unterstützung. Die Frage ist aber, wie lange.
„Trump bereitet den Boden für einen neuen Umgang mit der Ukraine. Das bedeutet geringere militärische Unterstützung, wenn nicht sogar den kompletten Stopp“, so Lohmann. Insgesamt glaubt er, dass das Vorgehen des US-Präsidenten Teil eines mehrstufigen Plans ist.
Der US-Präsident möchte, so erklärt es der Wissenschaftler, die diplomatischen Beziehungen zu Russland wiederherstellen und sich im wirtschaftlichen Bereich annähern. Gleichwohl sei nicht ausgemacht, dass Trump sich komplett auf die russische Seite stellt. „Auch da hat er mit Strafen gedroht, sollte sich Putin nicht an Vereinbarungen halten“, sagt Lohmann.