„Politisch und militärisch riskant“ - Der Wechsel an der Militär-Spitze könnte für Selenskyj nach hinten losgehen

 

Jetzt übernimmt Generaloberst Olexander Syrskyj seine Position, ein einsatzerprobter Berufssoldat. Ihm hat die Ukraine „einige der größten Erfolge gegen die russischen Aggressoren zu verdanken, darunter die erfolgreiche Verteidigung von Kiew, die erfolgreiche Gegenoffensive im Raum Charkiw und die Verteidigung von Bachmut“, sagt Thiele.

Aber mehr noch. „Mit seiner auch gegenüber eigenen Truppen rücksichtslosen Kriegsführung in Bachmut hat sich Syrskyj den Spitznamen ´Metzger´ erworben. Unter seiner Führung wurden die besonders erfahrenen ukrainischen Truppen und – kostbaren – Spezialkräfte für symbolische Ziele geopfert.“

Syrskyj ist gebürtiger Russe

Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland an der Freien Universität Berlin, hält noch andere Punkte für wichtig. „Interessant ist, dass Syrskyj eigentlich in Russland geboren und aufgewachsen ist“, sagt er zu FOCUS online.

Syrskyj habe seinen Militärdienst als Offizier in der Ukraine (damals noch Teil der UdSSR) geleistet. „Seine militärische Ausbildung hat er in Moskau absolviert. 2015 war er als hochrangiger Offizier der ukrainischen Armee am Krieg in der Ostukraine beteiligt.“

Selenskiyjs Erklärung für den Wechsel an der militärischen Spitze findet Libman „etwas vage“. „Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Entlassung Saluschnyjs mit der wachsenden Sorge des Präsidenten zusammenhängt, er könne zu populär werden und politische Ambitionen entwickeln“, sagt er.

Außerdem habe es Differenzen zwischen Selenskyj und dem General über militärische Strategie und Mobilisierung gegeben.

Thiele ergänzt: „Saluschnyj hat als Mann des offenen Wortes die prekäre militärische Lage - auch öffentlich - ungeschminkt beschrieben, dezidiert auf disruptive Innovationen in der Kriegsführung gesetzt und gegen das Zögern Selenskyjs auf ein neues Wehrpflichtgesetz gedrängt, um der Armee dringend benötigte neue personelle Ressourcen zu erschließen.“

Syrskyj scheint aus anderem Holz geschnitzt zu sein

Worauf er anspielt: Saluschnyj hatte in einem aufsehenerregenden Artikel für den „Economist“ erklärt, der Krieg sei in eine Pattsituation geraten. Nur große Waffenlieferungen und ein Technologiesprung könnten die ukrainischen Streitkräfte wieder in die Offensive bringen.

Selenskyj hatte seiner Beurteilung öffentlich widersprochen. Syrskyj scheint aus anderem Holz geschnitzt zu sein als sein Vorgänger. Er präsentiert sich als treuer Gefolgsmann des Präsidenten.

Militärexperten zufolge gibt es schon länger einen Draht zwischen beiden Männern, wie unter anderem das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) berichtet.

Unstrittig ist aber auch, dass auf Syrskyj gewaltige Herausforderungen zukommen. Nämlich, die Führung einer Armee zu übernehmen, die Schwierigkeiten hat, Soldaten zu rekrutieren und die einem gut bewaffneten Gegner zunehmend unterlegen ist, sagt Thiele.

„Ein Führungswechsel mitten im Krieg ist politisch und militärisch riskant“

Auch für Selenskyj ist die Lage verzwickt. Schließlich war Saluschnyj bei seinen Soldaten, aber auch der ukrainischen Bevölkerung beliebt. Die Absetzung des Generals könnte also nach hinten losgehen.

„Ein Führungswechsel mitten im Krieg ist politisch und militärisch riskant“, meint auch Thiele. In seinen Augen kommt der Wechsel für die Ukraine zu einem denkbar schwierigen Zeitpunkt des Krieges.

Nämlich „inmitten verstärkter russischer Angriffe, bröckelnder Unterstützung des Westens, eines parteipolitischen Streits in den USA über die Unterstützung der Regierung in Kiew und Spannungen zwischen der zivilen und militärischen Führung der Ukraine“.

Von der „Erneuerung der ukrainischen Streitkräfte“, mit der Selenskyj die Entlassung Saluschnyjs begründete, wird Thieles Ansicht nach nicht viel zu sehen sein. Tatsächlich, so das Fazit des Militärexperten, sei mit Syrskyj als neuem Oberbefehlshaber eher der Rückschritt zu einer traditionellen, russisch geprägten Kriegsführung zu erwarten.

Was bedeutet der Wechsel für Selenskyj?

Für Libman zeigt der Wechsel an der Spitze des ukrainischen Militärs vor allem eines: fehlende Einigkeit. „Es gibt Machtkämpfe und Spaltungen, und Selenskyj nimmt sie sehr ernst, lässt sogar seine strategischen Entscheidungen davon - und der Sorge um seine Macht - bestimmen.“

Das sind laut dem Politologen keine guten Nachrichten für die Ukraine. Auch die Art und Weise, wie der Wechsel stattgefunden habe, hält er für „sehr intransparent und mit unklarer Kommunikation verbunden“. „Auch kein gutes Zeichen“, so Libman.

Für Verteidigungsexperte Thiele steht am Ende fest: „Mit der Umstrukturierung der militärischen Führung leitet Selenskyj eine neue Phase des Krieges ein.“ Deren Erfolg oder Misserfolg dürfte auch über seine politische Zukunft und möglicherweise über den Ausgang des Krieges entscheiden.

Was aus Saluschnyj wird, ist derzeit unklar. Die „Washington Post“ berichtet, ihm sei ein Botschafterposten in Großbritannien angeboten worden. Der General soll die Stelle jedoch abgelehnt haben.