Syrer floh 2015 nach Deutschland - Vom Flüchtling zum Bürgermeister: „Ich dachte auch: Ist diese Behörde irre?“
Der Weg von Ryyan Alshebl ist eine wahre Erfolgsgeschichte: 2015 flüchtet er im Schlauchboot über das Mittelmeer von Syrien nach Deutschland. Acht Jahre später wählt ihn die schwäbische Gemeinde Ostelsheim (Kreis Calw) zu ihrem Bürgermeister – trotz eines im Ort verwurzelten Gegenkandidaten. Seit mehr als einem Jahr hat der 30-Jährige von den Grünen nun das Sagen im Rathaus der 2700-Einwohner-Gemeinde.
Nach dem Anschlag in Solingen (Nordrhein-Westfalen), bei dem ein Syrer drei Menschen mit einem Messer tötete, spricht Alshebl im Interview mit unserer Zeitung über die Konsequenzen aus der Tat.
Herr Alshebl, nach dem Anschlag in Solingen werden Konsequenzen in der deutschen Asylpolitik gefordert. CDU-Chef Friedrich Merz sprach gar von einem Aufnahmestopp für alle Syrer und Afghanen. Sie sind selbst 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. Sind alle Syrer potenzielle Messerstecher?
Natürlich nicht. Wenn Herr Merz so etwas fordert – mal unabhängig vom rechtlichen Aspekt – dann fühle ich mich als jemand, der aus Syrien kommt, in meiner menschlichen Würde verletzt.
Er nimmt wohl an, dass jemand wie ich eher ein Gefährder ist, aber in Wahrheit bin ich mit meiner Geschichte eben nicht die Ausnahme. Ärzte, Apotheker, Ingenieure – das sind nur ein paar Beispiele von Menschen aus Syrien, die sich hier in Deutschland als Teil der Gesellschaft begreifen. So wie übrigens die Mehrheit der Syrer hierzulande.
Wenn wir über Kriminalität reden, halte ich es nicht für verantwortungsbewusst und zielführend, niemanden mehr reinzulassen. Wir lösen das Problem nicht durch populistische Parolen.
Was fordern Sie stattdessen als Konsequenz aus dem Anschlag?
Zusammen mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und Richard Arnold, dem OB von Schwäbisch Gmünd, habe ich in einem Beitrag in der Wochenzeitung „Zeit“ eine Reihe von Forderungen aufgelistet.
Ein wichtiges Thema, das man angehen muss: Einige Geflüchtete kommen mit falscher Identität nach Deutschland. Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Verfahren dazu müssen professionalisiert werden, um das Alter und das Herkunftsland bestimmen zu können.
Auch Handy-Monitoring darf kein Tabu sein. Wenn ich nur daran denke, wie leicht das damals bei mir war, den Anerkennungsbescheid zu erhalten...
Erzählen Sie bitte.
Bei mir war das 2015 wie ein Speeddating: Zehn Minuten, dann war alles erledigt. Ich habe mich natürlich gefreut, dass es so schnell geklappt hat, aber ich dachte auch: Ist diese Behörde irre? Es kann nicht sein, dass jemand auf Grundlage eines wenige Minuten dauernden Gesprächs in Deutschland Asyl bekommt.
Ich plädiere für ein ausführlicheres Verfahren, was natürlich auch keine zwei Jahre dauern darf. Aber wir müssen Leute, die bereits auffällig geworden sind und Straftaten begangen haben, früh erkennen, um weitere Taten zu verhindern.
Wie könnte dieses Verfahren aussehen?
Wir müssen den Fokus mehr auf die psychische Situation der ankommenden Menschen legen. Das Thema findet kaum Beachtung, man konzentriert sich bisher vor allem auf die materielle Versorgung: Geld oder ein Dach über dem Kopf.
Aber wir haben es mit vielen Menschen zu tun, die eher immaterielle Bedürfnisse haben. Ich war selbst jahrelang depressiv, diese Fluchtgeschichte ist nicht einfach. Und wenn hier nichts vorangeht und man noch keinen gesellschaftlichen Anschluss gefunden hat, dann landet man in einer Spirale, aus der man ohne externe Hilfe nicht herauskommt.
In den Unterkünften in meiner Gemeinde sind – ohne Übertreibung – 70 Prozent der Bewohner depressiv.
Doch selbst Einheimische warten sehr lange auf einen Therapieplatz.
Ja, und die Integrationsmanager können die Betroffenen natürlich nicht zwingen, eine Therapie zu machen.
Deshalb brauchen wir Leute, die zumindest anfangs bei der Ankunft in der Muttersprache mit den Geflüchteten kommunizieren können, die eine grobe Orientierung über die Lage im Herkunftsland haben – eine Art Erste Hilfe der psychischen Behandlung. Wenn man da genauer hinschaut, könnte man eher herausfinden, ob jemand eine mögliche Gefahr darstellt.
Was läuft generell schief in der deutschen Asylpolitik?
Es darf nicht sein, dass Wiederholungstäter, die zehn oder mehr Straftaten begangen haben, auf freiem Fuß sind. Wenn Leute kriminell werden, muss das Konsequenzen haben. Gerade beim Datenschutz lachen sich die Leute kaputt über uns.
Ein Beispiel aus meinem Alltag als Bürgermeister: Kürzlich gab es in einer Flüchtlingsunterkunft einen Messerangriff durch einen Besucher – und ich wollte dem Asylbewerber einen Platzverweis aussprechen. Aber ich habe keine Auskunft bekommen – mit Verweis auf den Datenschutz. Das ist ein schlechter Witz.
Welche Menschen aus Syrien kommen nach Deutschland?
Es gibt die mit einer gewissen Vorbildung, die eine Schule besucht haben und wissen, wie Deutschland grob aussieht und funktioniert. Sie sind friedlich und gesetzestreu. Aber rein mathematisch gibt es auch welche mit anderen Vorstellungen, die denken, dass bei der Ankunft gleich eine Wohnung, ein Auto und womöglich eine Frau zur Verfügung gestellt werden. Bei letzteren besteht die Gefahr, dass sie das System ausnutzen. Aber die überwältigende Mehrheit will hier ein vernünftiges Leben führen. Und die ärgern sich tierisch, dass Einzelne diesen Ruf schlecht machen – so, dass sogar jemand wie Friedrich Merz solche Pauschalisierungen vornimmt.
Aber wie schafft man es, diese Negativbeispiele früher zu erkennen, um rechtzeitig gegenzusteuern?
Wir müssen den Hintergrund mehr beleuchten. Es sind meistens junge Männer aus bestimmten, schlecht entwickelten Regionen in Syrien, wo der Staat nur förmlich existiert, das Recht nicht ausgeübt wird – und die Leute auf Selbstjustiz zurückgreifen. Sie kommen auch aus Gebieten, die unter der Kontrolle des IS standen. Die Mehrheit sind Opfer der Terrororganisation, aber es gibt welche mit einer gewissen Prägung, die gefährlich werden können. Mit diesem Wissen muss man auf die ankommenden Menschen schauen. Um das umzusetzen, könnte beispielsweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gut integrierte Syrer und Afghanen einstellen.
Sie sind seit rund einem Jahr Bürgermeister von Ostelsheim. Die Kommunen klagen immer wieder über die hohen Flüchtlingszahlen. Wie klappt es bei Ihnen vor Ort?
Ziemlich gut. Wir haben viele, die kommen und wieder gehen. Ostelsheim ist nicht die attraktivste Gemeinde für junge Männer, die für ihr Studium in die Städte wollen: nach Stuttgart, Karlsruhe oder Tübingen. Aber ich sage ihnen immer: Ich konnte auch auf dem Land eine geile Karriere machen.
Von Florian Dürr