„Wir brauchen Entscheidungen!“ - Union will Neuwahlen - und kassiert Abfuhr aus der Wirtschaft
Angesichts des Dauerkrachs in der Ampel-Koalition rechnet fast jeder zweite Deutsche damit, dass die Regierung aus SPD, Grünen und FDP vor der nächsten Bundestagswahl 2025 zerbrechen wird. Die Union läuft sich bereits für ein Scheitern der Ampel warm: CDU und CSU dringen immer stärker auf Neuwahlen im Bund. Sie haben dafür den 9. Juni 2024 im Blick, den Tag der Europawahl. Denn anders als die Ampel stehen die Schwesterparteien in den Umfragen derzeit gut da.
Die tatsächliche Aussicht auf vorgezogene Neuwahlen ist allerdings ziemlich gering, der Weg dorthin kompliziert: Unter anderem müsste Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Parlament die Vertrauensfrage stellen und verlieren. Das ist derzeit nicht absehbar.
Merz, Dobrindt, Söder: Unions-Mitglieder fordern Neuwahlen im Juni
Unionsfraktionschef Friedrich Merz betonte im Gespräch der Deutschen Presse-Agentur dennoch, dass mit gleichzeitigen Wahlen im Bund und in Europa auch die Wahl zum Europaparlament durch eine hohe Beteiligung gestärkt werden könnte. Auch CSU-Chef Markus Söder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt haben sich für Neuwahlen am 9. Juni ausgesprochen. Europawahlen gelten in Deutschland als Denkzettelwahlen. Für 2024 wird befürchtet, dass die AfD besonders gut abschneiden könnte. Manche hoffen, dass eine hohe Wahlbeteiligung das verhindern könnte.
Als strategisches Ziel gab CDU-Chef Merz aus: „Wir müssen nach der nächsten Bundestagswahl stark genug sein, mindestens zwei Optionen zu haben, mit wem wir denn dann in eine Regierung gehen können.“ Die Hessen-Wahl von Anfang Oktober nannte er beispielhaft. Da habe die CDU mit 34,6 Prozent ein Ergebnis erreicht, „das für uns auch ein gutes Wahlergebnis im Bund wäre“. Ministerpräsident Boris Rhein habe zwei Alternativen gehabt, mit SPD und Grünen intensive Gespräche geführt und sich für Koalitionsverhandlungen mit der SPD entschieden. „Ich möchte eine ähnliche Situation für uns als Union bei der Bundestagswahl sehen, ganz gleich wann sie stattfindet.“
Dass die Union gerade jetzt auf Neuwahlen dringt, dürfte auch mit den Umfragewerten zu tun haben. CDU und CSU kommen bei der Sonntagsfrage auf Werte zwischen 31 und 34 Prozent. Die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP kommen zusammen je nach Umfrage höchstens auf 37 Prozent.
Knapp die Hälfte der Deutschen rechnet mit vorzeitigem Ampel-Aus
Viele Bürgerinnen und Bürger glauben nicht mehr daran, dass die Ampel bis zur regulären Bundestagswahl im Herbst 2025 durchhält. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der dpa rechnet fast jeder zweite Deutsche damit, dass die Ampel-Koalition schon vorher zerbricht.
27 Prozent erwarten ein solches Szenario schon für das kommende Jahr. Weitere 21 Prozent rechnen damit, dass die Ampel zwar bis 2025 hält, aber dann trotzdem noch vor der Wahl beendet wird. Nur 34 Prozent trauen dem Dreier-Bündnis ein Fortbestehen bis zur Wahl zu.
FDP-Mitgliederbefragung läuft - Esken sieht keinen Grund zur Sorge
Und dann ist da noch die FDP-Mitgliederbefragung zur Ampel-Koalition, die derzeit auf Antrag von 598 FDP-Mitgliedern bis zum 1. Januar läuft. Grund für diesen Schritt waren desaströse Wahlergebnisse der FDP in Hessen und Bayern. SPD-Chefin Saskia Esken sieht in der Befragung jedoch keine Gefahr für den Fortbestand des Bündnisses aus SPD, Grünen und FDP. Im dpa-Interview machte sie deutlich, dass sie unabhängig vom Ergebnis davon ausgeht, dass die FDP-Führung zur Ampel steht. „Christian Lindner und andere Personen aus seiner Führungsmannschaft und -frauschaft haben sich jedenfalls ganz klar für einen Verbleib in der Ampel ausgesprochen, und das nehme ich den Kollegen und Kolleginnen auch ab.“
Esken betonte, dass die FDP-Mitglieder nur zu ihrer Stimmung gegenüber der Koalition von SPD, Grünen und FDP befragt würden. „Ich wünschte mir, dass sie sich in der Mehrheit der Verantwortung für das Land bewusst sind“, fügte sie hinzu. Das Votum ist nicht bindend für die Partei- und Fraktionsführung im Bundestag.
Esken: „Müssen durchstarten und gemeinsam Verantwortung übernehmen“
Spekulationen über ein vorzeitiges Ampel-Aus - wie auch von Merz, Söder und Dobrindt befeuert - trat Esken entschieden entgegen. „Dieses Land hat es verdient, dass eine Regierung sich auch verantwortungsvoll einsetzt für die Menschen. Und das wollen wir auch weiterhin tun.“
Die Ampel wolle „die Veränderungen, inmitten derer wir uns befinden, bei den Hörnern packen und gestalten und dabei wirtschaftlichen Wohlstand und Zusammenhalt im Land stärken“, sagte die SPD-Vorsitzende. Dieser Spirit sei ein Stück weit verloren gegangen durch die aktuellen Krisen, aber auch durch Streit in der Ampel. „Und ich hoffe doch sehr, dass jetzt alle Koalitionspartner die Weihnachtspause nutzen, um Kräfte zu tanken“, betonte Esken. „Aber dann müssen wir wirklich auch durchstarten und deutlich machen, dass wir gemeinsam Verantwortung fürs Land übernehmen.“
Wirtschaft lehnt vorgezogene Neuwahlen ab
Auch unter Wirtschaftsvertretern stoßt die Idee vorgezogener Neuwahlen auf Widerstand - und das trotz Unzufriedenheit mit der Ampel-Politik.
„Durch Neuwahlen würde nach meiner persönlichen Einschätzung vor allem viel Zeit ins Land gehen durch eine Hängepartie, Wahlkampf und wachsende Unsicherheiten“, erklärte Peter Adrian, Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Die DIHK sehe die Regierung und Opposition sowie Bundesländer und Bund gleichermaßen gefordert, Lösungen für die aktuellen Probleme anzugehen. „Wir brauchen jetzt vor allem Entscheidungen für bessere Wachstumschancen“, so Adrian.
Es brauche nicht noch mehr Unruhe durch Neuwahlen, sondern „eine Regierung, die sich der Realität stellt“, sagte Dirk Jandura, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Denn Wahlen würden die aktuellen Herausforderungen nicht lösen. Dazu zählt Jandura geopolitische Konflikte, hohe Staatsschulden, wenig Investitionen, aber auch die marode Infrastruktur, sinkende Wettbewerbsfähigkeit und Defizite bei der Digitalisierung.