Bürgergeld-Empfänger flucht über „Arsch-hoch-Prämie“: „Maßnahme, die „an der Realität vorbeigeht“
Die von Robert Habeck vorgestellte 1000-Euro-Prämie für Langzeitarbeitslose stößt auf Kritik. Betroffene und Experten zweifeln an der Wirksamkeit der Maßnahme.
München – Die Diskussionen um das Bürgergeld reißen nicht ab. Immer wieder entfachen politische Auseinandersetzungen um angebliche „Totalverweigerer“, die sich auf Kosten der Steuerzahler aushalten lassen. Genau dieses Bild vermittle auch die von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grünen) vorgestellte 1000-Euro-Prämie, die Langzeitarbeitslose wieder zurück in die Arbeitswelt führen soll.
In einem Focus-Interview übt ein Betroffener heftige Kritik an der Aussage, die diese Maßnahme über Bürgergeldempfänger suggeriert. Auch ein Sozialexperte zeigt sich von der Ampel-Idee irritiert.
1000-Euro-Anschubfinanzierung bloße „Stimmungsmache“? Bürgergeldempfänger wütet gegen Maßnahme
Die angedachte Anschubfinanzierung für Langzeitarbeitslose beinhaltet eine Belohnung von 1000 Euro vom Staat für diejenigen, die es geschafft haben, mindestens ein Jahr im neuen Job durchhalten zu arbeiten. Unter Kritikern wird sie daher auch „Arsch-hoch- Prämie“ bezeichnet. Kritisch sehen die Idee übrigens auch einige aus der Ampel-Koalition selbst, nicht zuletzt Kanzler Olaf Scholz (SPD). So auch der Mann, der anonym mit dem Focus über das Thema spricht.
In den Augen des 47-Jährigen erzeuge die Maßnahme „Stimmungsmache“ in der Gesellschaft, an der eigentlichen Realität von Langzeitarbeitslosen gehe sie aber weit vorbei. Als jemand, der seit über einem Jahr nicht mehr beschäftigt ist, hätte er Anspruch auf die Habeck-Prämie. Vorausgesetzt, er findet und behält einen Job. So die Theorie.
Maßnahme setzt am falschen Ende an: Betroffene bräuchten finanziellen Anschub vor neuem Job
Doch in der Realität scheitert es oft schon am ersten Schritt. „Wer noch nie längere Zeit ohne Arbeit war, hat in aller Regel keine Ahnung, was das bedeutet. Gerade auch für die Wiederaufnahme einer Tätigkeit“, sagt der Mann. Mit dem Bürgergeld komme man „gerade so über die Runden“. Um überhaupt eine Chance auf den Job zu haben, bräuchte es seiner Meinung nach die Finanzspritze vorher. „Das sogenannte gepflegte Auftreten, das in Bewerbungsgesprächen nun mal vorausgesetzt wird, kostet nun mal“, so der 47-Jährige.
Zwar stünden Bürgergeldempfängern sowohl neue Kleidung als auch ein Friseurbesuch in Form von Gutschriften zu, allerdings seien diese Maßnahmen nur in der Theorie geeignet. „Wenn mich ein Arbeitgeber in einer Woche zum Gespräch sehen will – glauben Sie wirklich, dass ich die Knete so rechtzeitig vom Amt bekomme, dass ich mich entsprechend vorbereiten kann?“, fragt der Interviewte beim Focus provokant.
Sozialexperte stimmt ein: Hilfen, die Einstieg erleichtern statt „Tüte mit Bonbons“ nach einem Jahr
„Tatsächlich haben Langzeitarbeitslose mit massiven Barrieren zu kämpfen“, kommentiert Michael David, Sozialexperte des Diakonie-Bundesverbandes und Leiter des Zentrums für Soziales und Beteiligung, die Aussagen des Bürgergeldempfängers bei IPPEN.MEDIA. Den Betroffenen fehlt eine gewisse Routine, sich positiv darzustellen, und mit jedem Tag der Erwerbslosigkeit leiden die eigenen beruflichen Kompetenzen etwas mehr.
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Die Belohnung derjenigen, die bereits ein Jahr erwerbstätig sind, verfehle den Zweck. „Wichtig sind Hilfen, die direkt den Einstieg in Erwerbsarbeit erleichtern“, so der Experte. Nach einem Jahr intaktem Arbeitsverhältnis „mit einer Tüte Bonbons“ vorbeizukommen, helfe nicht. „Es ist nicht das Problem, dass Leute Anreiz brauchen“, stellt David klar.
Langzeitarbeitslose haben durchaus viel zu bieten. „Das erkennen leider nicht alle Arbeitgeber.“ Daher bräuchte es ein besseres Coaching für beide Seiten. Zuletzt kursierten aber überwiegend Pläne über härteren Sanktionen für Bürgergeldempfänger. Ein Problem, das auch David herausstellt: durch die Haushaltssperre der Ampel wurden auch wichtige Förderungen durch das Arbeitsamt weggekürzt.
Sozialexperte über Ampel-Maßnahme verwundert: „Eckpunktepapier ging in eine andere Richtung“
Darüber hinaus weist die Diakonie schon seit Jahren darauf hin, dass Menschen, die eine Arbeit aufnehmen, mit einer faktischen Einkommenslücke zu kämpfen haben. Die Grundsicherung fließt ab Monatsbeginn nicht mehr, das Gehalt aus der neuen Beschäftigung kommt aber erst am Monatsende. „Wovon sollen die Menschen ihre Miete bezahlen?“, fragt der Experte, der täglich mit Betroffenen zu tun hat.
Die Umsetzung der geplanten Prämie überrascht sogar den Experten. „Das ist ein Vorhaben, das die Koalitionsspitzen gemeinsam in diesem Sommer im Zusammenhang mit anderen Maßnahmen verabredet hatten. Allerdings ging das Eckpunktepapier in eine andere Richtung, als jetzt die Beschlussvorlage des Arbeitsministeriums“, so David auf Nachfrage von IPPEN.MEDIA. Als Verbände habe man die Einigung vom Sommer so verstanden, dass die eigentlichen Probleme von Langzeitarbeitslosen endlich in der Politik angekommen seien.
„Bei jeder Integrationsmaßnahme in den Arbeitsmarkt muss sicher sein, dass sie schnell vereinbart werden und greifen kann.“ Dies treffe jedoch nicht immer zu und hänge stark vom jeweiligen Arbeitsamt ab. Doch David stellt klar: Es gibt auch durchaus positivere Erfahrungen, als die, von denen der Gesprächspartner des Focus berichtet. Pauschalisieren könne und solle man nicht.
Anschubfinanzierung der falsche Hebel – Was sich Betroffener statt Geld-Prämie wünscht
Statt „vorgespieltem Aktivismus“ wünscht sich der Bürgergeldempfänger ernsthafte Maßnahmen. Beispielsweise mehr Investitionen in Aus- und Weiterbildungen. Er selbst – ein gelernter Vermessungstechniker – wartet seit etwa einem Jahr auf eine notwendige Fortbildung, um in seinem Beruf wieder einsteigen zu können, wie er dem Focus sagt.
„Ich finde den Begriff Anschubfinanzierung, den man im Zusammenhang mit der 1000-Euro-Prämie öfter gehört hat, eigentlich gar nicht so schlecht. Aber das sollte dann bitte wörtlich genommen werden. 1000 Euro im Vorfeld eines Bewerbungsprozesses, von mir aus auch als Darlehen – das wäre gut. Man könnte das Ganze ja an Bedingungen knüpfen“, so der Mann. (rku)