„Die Genauigkeit sinkt“: Russlands Gleitbomben-Horror könnte bald ein Ende finden
Russland zielt weiter mit Drei-Tonnen-Bomben auf den Durchhaltewillen der ukrainischen Zivilbevölkerung; und opfert die eigene. Ein Ende ist in Sicht.
Kiew – „Die Geschichte des russischen Angriffs auf Mariupol ist eine Horrorgeschichte“, schreibt Human Rights Watch in seinem Bericht über die Zerstörung der Stadt in der Ukraine durch Truppen von Wladimir Putin. Der jüngste Angriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew ist eine menschliche Tragödie gleichen Ausmaßes. Wie die Ukrainska Prawda aktuell berichtet, nimmt der Horror seinen Lauf: Russland setzt seinen Terror fort, Drei-Tonnen-Bomben ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung abzuwerfen. Das ukrainische Verteidigungsministerium hat ein entsprechendes Video veröffentlicht, in dem ein vermeintlich russischer Pilot seine Bombe startklar macht – die Ukraine versucht damit einen Beweis vorzulegen für den russischen Zynismus, dem auch eigene Verluste nichts bedeuten.
„Es ist schwer, sich ein Ziel vorzustellen, das von einer Fliegerbombe dieser Größe nicht zerstört werden würde“, soll ein Pilot beim Start der Bombe gesagt haben. „Sie sind sehr furchterregend und tödlich. „Selbst aus einem Kilometer Entfernung reißt die Explosion die Türen von Gebäuden aus den Angeln“, sagte gegenüber der Financial Times (FT) der ukrainische Soldat Bohdan. Das war im April, als die Invasoren angefangen hatten, mit Bomben um sich zu werfen, mit einem Gewicht zwischen 500 und 1.500 Kilogramm Sprengstoff – jetzt tragen die Russen die Kraft der Verwüstung von drei Tonnen Sprengstoff in ihr Nachbarland.
„In dem verzweifelten Versuch, die Auswirkungen von bis zu 100 russischen Gleitbomben pro Monat abzumildern, haben die ukrainischen Streitkräfte damit begonnen, mehr und bessere Funkstörsender einzusetzen, die die Signale zwischen den Bomben und den sie steuernden Satelliten blockieren können.“
Die FT zitiert ukrainische Militärs, wonach die Russen allein von diesem Jahresanfang an bis April mit rund 3.500 solcher gelenkter Fliegerbomben angegriffen hätten, das sei eine 16-fache Steigerung gegenüber 2023, wie die FT schreibt und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dahingehend zitiert, allein in der dritten Märzwoche habe Russland „über 700 gelenkte Fliegerbomben abgefeuert“, wie er gesagt hat. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch sieht darin echte Kriegsverbrechen.
Russlands Terror-Bomben machen keinen Unterschied zwischen Soldat und Zivilist
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine sei demzufolge ein internationaler bewaffneter Konflikt, der durch das humanitäre Völkerrecht geregelt wird – in erster Linie durch die vier Genfer Konventionen von 1949 und ihr erstes Zusatzprotokoll von 1977 (Protokoll I). Sowohl Russland als auch die Ukraine seien Vertragsparteien der Genfer Konventionen von 1949 und des Protokolls I, schreibt Human Rights Watch auf der Homepage. Das Kriegsrecht schütze demnach Zivilisten und andere Nichtkombattanten vor den Gefahren bewaffneter Konflikte.
Die verfeindeten Parteien seien durch das Kriegsrecht auf Grenzen in Mitteln und Methoden ihrer Kriegführung festgelegt: Zwischen Kombattanten, also den besonders gekennzeichneten Angehörigen militärischer Einheiten, und Zivilisten müsse jederzeit unterschieden werden können. „Zivilisten dürfen niemals das absichtliche Ziel von Angriffen sein. Konfliktparteien müssen alle möglichen Vorkehrungen treffen, um den Schaden an Zivilisten und zivilen Objekten so gering wie möglich zu halten, und dürfen keine Angriffe ausführen, bei denen nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden wird oder die der Zivilbevölkerung unverhältnismäßigen Schaden zufügen“, stellt Human Rights Watch klar.
Putins Bombe schleudert Splitter mehr als einen Kilometer weit
Drei Tonnen schwere Sprengsätze bewirken das Gegenteil dessen. Bei zwei Angriffen Mitte Juni auf die Stadt Lyptsi, rund 20 Kilometer nördlich von Charkiw verfehlten die riesigen Bomben ihre Ziele nur um wenige Meter, wie das Magazin Forbes berichtet hat– „aber das spielte kaum eine Rolle“, schrieb Forbes-Autor David Axe. Er bezieht sich auf den pro-russischen Blogger „Fighterbomber“, der angibt, ein ehemaliger russischer Militärpilot gewesen zu sein und auf seinem Telegram-Kanal wiederholt Kriegsereignisse kommentiert. Eine FAB-3000-Bombe verursache laut „Fighterbomber“ „Explosionsschäden bis zu einer Entfernung von mehr als 200 Metern – und schleudert tödliche Splitter über mehr als 1.200 Meter weit“.
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Insofern macht die Bombe keinen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten. Die jüngsten Raketenangriffe auf Kiew Anfang Juni hätten laut dem russischen Verteidigungsministerium angeblich Rüstungsfabriken und Militärflugplätzen der Ukraine gegolten, berichtet der Spiegel. Die vielen Videobilder aus Kiew hätten, den Russen zufolge, belegt, „dass die Schäden durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden seien“. Wie der Spiegel klarstellt, hätten diese Belege aber gefehlt.
Gleitbomben auch für Russlands Zivilbevölkerung eine tödliche Gefahr
Belege allerdings existieren dafür, dass die Gleitbomben, gleich welcher Größe, auch für die russischen Zivilisten eine tödliche Bedrohung darstellen. Anfang Juli hat die Washington Post aufgedeckt, dass durch die Nachrüstung mit Leitsystemen aus ehemaligen Freifallbomben noch lange keine Präzisionswaffen würden. „Russlands verheerende Gleitbomben fallen weiterhin auf sein eigenes Territorium“, titelt die Post. Das Blatt will anhand interner Dokumente der russischen Armee beweisen können, dass zwischen April 2023 und April 2024 in der Region Belgorod an der Grenze zur Ukraine mindestens 38 Gleitbomben abgestürzt seien. Die meisten davon jedoch ohne zu detonieren.
Die Dokumente sollen belegen, dass mindestens vier Bomben direkt in der Metropole Belgorod niedergegangen seien. Das rund 400.000 Einwohner zählende Zentrum liegt nur 80 Kilometer vom unter Dauerbeschuss stehenden Charkiw entfernt. Sieben weitere Gleitbomben-Blindgänger sollen in den umliegenden Vororten gefunden worden sein, so die Post. Allerdings räumt das Blatt ein, dass die mangelnde Präzision weniger gravierend sei, als dass Russland auf deren Einsatz verzichten würde.
Unter den russischen Gleitbomben-Attacken leidet die Moral der ukrainischen Soldaten
„Das russische Verteidigungsministerium erklärte, dass die FAB-3000 über eine Kampfkraft verfüge, die ,nicht ignoriert werden könne‘, schreibt zum aktuellen russischen Angriff der Kiew Independent. Demnach strebe Russland danach, mit dem Bombenterror größtmöglichen Schaden anzurichten. Wie die Financial Times berichtet hatte, gehen Militäranalysten davon aus, dass die Bombardements nicht nur Verbrechen an Zivilisten darstellten, sondern auch die Moral der kämpfenden Truppe zermürbten; aufgrund ihrer Wirkung und vor allem aufgrund ihrer Zahl.
Allerdings scheint dem Einsatz der Drei-Tonnen-Bomben ein Taktik-Wechsel der Russen vorausgegangen zu sein. Klar ist, dass sie ihre Bestände aufbrauchen, allerdings hatte Forbes nach den ersten Einsätzen der tödlichen Schwergewichte im Juni berichtet, deren Effektivität sei geringer als die der leichteren FAB-Waffen. Demnach hätte der Militärblogger „Fighterbomber“ behauptet, die Zuladung eines Waffenträgers wie einer Su-34 entspräche entweder einer Drei-Tonnen-Bombe oder bis zu drei kleinerer, etwa der FAB-1500. Mehrere Sprengkörper hätten darüberhinaus wahrscheinlich einen größeren Streu- und damit Wirkungskreis.
Im April hatte die Financial Times davon berichtet, dass der ehemalige russische Verteidigungsminister Sergej Shoigu angekündigt hatte, mit der Massenproduktion der Drei-Tonnen-Bomben zu beginnen und die Produktion der kleineren Gleitbomben fortzusetzen – im Prinzip beinhaltet die Produktion aber lediglich die Umrüstung alter Freifallbomben mit Leitwerken und Antriebstechnik; ist also mehr oder weniger reine Improvisation.
Experten sehen ein baldiges Ende des Gleitbomben-Horrors voraus
Beobachter erwarten deshalb, dass der Horror für die Menschen im überfallenen Land demnächst ein Ende haben könnte. „Fighterbomber“ gesteht der Ukraine zu, dass ihr elektronisches Störfeuer präziser und wirkungsvoller werde, und die billig produzierten Gleitbomben über kurz oder lang in die Irre führen könnte. „In dem verzweifelten Versuch, die Auswirkungen von bis zu 100 russischen Gleitbomben pro Monat abzumildern, haben die ukrainischen Streitkräfte damit begonnen, mehr und bessere Funkstörsender einzusetzen, die die Signale zwischen den Bomben und den sie steuernden Satelliten blockieren können“, schreibt Forbes.
Auch John Hoehn sieht die Macht der Gleitbomben schwinden. Drei Möglichkeiten blieben der Ukraine als Gegenmaßnahme, argumentiert der Analyst des US-Thinktanks RAND: Um die Ukraine in die Lage zu versetzen, die Bedrohung durch Gleitbomben abzuwehren, brauche sie Langstreckenraketen, F-16-Kampfjets und schwedische AEW&C-Flugzeuge zur Langstreckenaufklärung sowie vor allem moderne elektronische Kampfmittel, die den Gleitbomben die Orientierung nähmen.
„Eine Gleitbombe kann bei einem Ausfall der Satellitennavigation auf ein Trägheitsnavigationssystem zurückgreifen, dieses ist jedoch für eine präzise Zielerfassung weniger genau. Die Fehler nehmen zu, je weiter die Bombe ohne Satellitenführung fliegt“, schreibt Hoehn. Oder wie Forbes-Autor David Axe den russischen Militärblogger „Fighterbomber“ zitiert: „Die Elektronische Kriegsführung gewinnt. Die Genauigkeit sinkt.“