Plötzlich wollen deutsche Unternehmen keine Windräder mehr in der Nordsee bauen

Das gab es noch nie: In der Nordsee sind zwei Flächen für den Bau von Windenergieparks bei der jüngsten Auktion der Bundesnetzagentur nicht versteigert worden. Für die beiden Flächen namens N-10.1 und N-10.2 sei kein einziges Gebot eingegangen, teilten Branchenverbände am Mittwoch mit.

Dabei war das Geschäft mit den Nordsee-Flächen bis vor kurzem noch äußerst lukrativ. Interessierte Energieversorger verzichteten im Wettbieten nicht nur auf staatliche Subventionen wie die EEG-Vergütung, sie zahlten auch großzügige Summen für die Nutzungsrechte. Noch im Sommer 2024 flossen für zwei versteigerte Flächen insgesamt mehr als drei Milliarden Euro.

„Jetzt interessiert sich niemand mehr“

Doch jetzt, im Sommer 2025, herrscht plötzlich Flaute. „Noch vor zwei Jahren wurden Milliardensummen geboten auf die Flächen, und jetzt interessiert sich niemand mehr“, sagte Stefan Thimm, Geschäftsführer des Bundesverbands Windenergie Offshore (BWO), am Donnerstag. „Das Interesse ist zusammengebrochen.“

Dabei spielt die sogenannte „Offshore“-Windkraft in der Nordsee eine zentrale Rolle in der deutschen Energieversorgung. Auf See weht der Wind sehr viel stärker und konstanter als an Land, die großen Offshore-Windparks können beinahe durchgängig Strom erzeugen – ähnlich wie klassische Kraftwerke. Im Nirgendwo der Nordsee braucht es auch keine teuren Grundstückskäufe und langwierige Genehmigungsverfahren wie an Land.

Für die deutsche Energiewende ist der  „Offshore“-Wind daher unverzichtbar. Insgesamt 9,2 Gigawatt Leistung sind bislang in der Nordsee installiert, damit können mehr als zehn Millionen Haushalte ganzjährig mit Strom versorgt werden. Bis 2030 sollen nach dem Willen der Bundesregierung 30 Gigawatt installiert sein, bis 2045 sogar 70 Gigawatt. 

Ende der Goldgräberstimmung

Kein Wunder also, das in den letzten Jahren eine Goldgräberstimmung in der Nordsee herrschte. Der gewaltige Bedarf an grünem Offshore-Strom machte das Geschäft für die Betreiber derart lukrativ, dass die großen Hürden bei der Ausschreibung, der Planung und dem Bau der großen Windparks gerne in Kauf genommen wurden.

Doch das ändert sich jetzt, warnt die Branche – und zwar schnell. Bereits bei der letzten Ausschreibung im Juni hatte es nur zwei Bieter gegeben. Das stark gesunkene Interesse zeige, „dass die Risiken für Offshore-Windpark-Entwickler in den letzten Jahren erheblich zugenommen haben“, sagte Kerstin Andrae, Chefin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), am Mittwoch. 

„Wir haben es mit einem Giftcocktail zu tun“

Für Thimm ist die fehlgeschlagene Aktion „ein Scheitern mit Ansage“. Schon seit Jahren beschwert sich die Energiebranche über hohe finanzielle und bürokratische Hürden bei den Ausschreibungen. „Wir haben es hier mit einem Giftcocktail zu tun, der schon vor langer Zeit angerührt worden ist, schon vor 2020“, sagt Thimm. 

Gründe zur Nervosität gibt es derzeit viele. Denn der Strommarkt ist für die großen Versorger unberechenbarer geworden. Typischerweise vermarkten die Betreiber den in der Nordsee erzeugten Strom selbst, etwa indem sie direkte Lieferverträge mit der Industrie abschließen – sogenannte Power Purchase Agreements (PPA). Doch die wirtschaftliche Flaute der letzten Jahre senkte sowohl den Strombedarf der Industrie als auch ihren Hunger auf neue große Investitionen. 

Die Filetstücke sind schon weg

Auch der erfolgreiche Ausbau der Erneuerbaren Energien wird für die Windpark-Betreiber paradoxerweise zum Hindernis. Immer öfter kommt es vor, dass mehr Solar- und Windstrom im System ist als benötigt, die Folge: Der Strompreis sinkt ins Negative, Anlagen müssen zur Entlastung des Netzes abgeriegelt werden. Das erhöht für Erzeuger die Unsicherheit. Der Ausbau von Batterien und Produktionsanlagen für Wasserstoff konnte da noch nicht Schritt halten. 

Hinzu kommt, dass auch beim Bau der Anlagen die Hürden größer werden. Die Branche verweist einerseits auf den Fachkräftemangel und Engpässe an den wenigen großen deutschen Häfen, außerdem seien die Kosten gestiegen. Die ausgeschriebenen Flächen sind außerdem in der Tendenz unattraktiver als die Flächen, die schon vergeben wurden – die Filetstücke sind schon weg. „Wir sind da schon ein Stück weit draußen“, sagt Thimm. Das macht den Bau wie auch das Verlegen eines Anschlusses ans Festland komplizierter als bislang.

Installation eines Windparks von RWE in der Nähe von Helgoland im März 2023
Installation eines Windparks von RWE in der Nähe von Helgoland im März 2023 CHRISTIAN CHARISIUS/POOL/AFP

Windräder im Windschatten

Einige Branchenvertreter weisen aber noch auf ein anderes Problem hin: Die Windparks in der Nordsee stünden einfach zu nahe beieinander. Die sogenannten Volllaststunden auf den ausgeschriebenen Flächen würden durch sogenannte Verschattungseffekte signifikant reduziert werden, warnt BDEW-Chefin Andrae.

Das Problem: Wenn Wind durch eine Windkraftanlage strömt, verliert er Energie und wird verwirbelt. Diese „Windschatten“ reichen mehrere Kilometer hinter eine Anlage. Windparks, die sich zu nahe beieinander befinden, bekommen dadurch weniger und unruhigeren Wind. Die Stromerzeugung sinkt, genau wie die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Anlagen.

Nach Einschätzung von Experten ist das Verschattungs-Problem in der Nordsee mittlerweile signifikant. Eine Analyse des Fraunhofer-Instituts für Windenergiesysteme (IWES) aus diesem Jahr ergab, dass eng bebaute Flächen wie die jetzt versteigerten Gebiete N-10.1 und N-10.2 bis zu 40 Prozent weniger sogenannte Volllaststunden liefern als Windparks auf freier Fläche.

„Sonst laufen wir in ganz große Probleme rein“

Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) kündigte daher am Mittwoch auch an, prüfen zu lassen, ob die Flächen überhaupt geeignet waren, ausgewiesen zu werden. „Das wollen wir uns kritisch anschauen“, sagte Reiche. Zudem müssten Ausschreibungsbedingungen gegebenenfalls angepasst werden.

Bei den Branchenverbänden hört man das gern. Die fordern schon seit Jahren, die Abstände zwischen den Windparks zu erhöhen, bürokratische Hürden abzubauen und flexiblere Möglichkeiten zur Vermarktung des Stroms zuzulassen. 

Die Zeit, nicht nur vor dem Hintergrund der deutschen Ausbauziele bis 2030. „Es besteht ganz hoher Handlungsbedarf, es darf nicht gezögert werden“, sagt Thimm. „Sonst laufen wir nächstes Jahr in ganz große Probleme rein.“ Im Sommer 2026 sollten eigentlich schon die nächsten Flächen ausgeschrieben werden.