Zum Beginn ein kleines Gedankenspiel: Was bleibt auf dem Screen Ihres Handys übrig, wenn Sie alle Apps „made in USA“ löschen? Vermutlich würde dieser Radikalschritt Ihr Allround-Gadget sehr schnell reduzieren auf seine Basisfunktion – telefonieren.
Mails und soziale Medien, Digitalbanking und Gesundheits-Tracking, Mobilität und Reise: Nahezu alles, was wir privat oder im Beruf digital unternehmen, funktioniert nur dank US-amerikanischer Hard- und Software sowie Cloudlösungen.
Ausspähen unter Freunden? Geht doch!
Das allein ist ein Gedanke, der paranoid veranlagte Charaktere in leichte Panik versetzen kann. In der ARD-Story „Digitale Ohnmacht“ (abrufbar in der ARD-Mediathek) ziehen die Reporter Daniel Anibal Bröckerhoff und Nadia Kailouli den Rahmen aber noch deutlich größer.
Denn: Auch die deutsche Infrastruktur hat ihre digitale Heimat längst in den USA gefunden. Ob Verwaltung, Polizei oder Bundeswehr: All die großen Behörden arbeiten mit US-Software. Gigantische Datenmengen aus Deutschland und Europa lagern längst in amerikanischen Rechenzentren.
Und das ungeachtet der Tatsache, dass dort seit 2018 der US Cloud Act gilt: US-Behörden dürfen demnach auf alle Daten zugreifen, die von amerikanischen Unternehmen gespeichert werden – auch wenn sie deutschen Nutzern gehören. Ausspähen unter Freunden geht gar nicht? Geht doch!
„Unfassbar“: Bundeswehr setzt auf Hilfe von Google
„Wir müssen momentan davon ausgehen, dass alle Daten, die auf US-amerikanischen Infrastrukturen liegen, missbraucht werden können“, warnt Medienwissenschaftler Martin Andree in dem ARD-Report. Auf die Frage, ob Europa sich so erpressbar mache durch die USA, antwortet EU-Digitalpolitikerin Alexandra Geese nur mit einem schlichten „Ja“.
Dass die Bundeswehr bei ihrer digitalen Transformation ausgerechnet auf die Hilfe von Google setzt, ist für ihn „unfassbar“. Denn etwas „so sensibles wie Bundeswehrdaten kann doch nicht in einer amerikanischen Cloud liegen“.
Deutschland erfindet Technologien – und andere verdienen daran
Wie konnten wir dermaßen den Anschluss verlieren? Deutschland ist das Land, in dem der erste Computer gebaut und das Audio-Format mp3 erfunden wurde. Die Plattformen Schüler- und Studi-VZ waren Mitte der 2000er-Jahren mit rund 17 Millionen Usern in Deutschland die digitalen Renner bei der jungen Generation – bis Facebook kam.
Das „Made in Germany“-Netzwerk Xing steht längst im Schatten von LinkedIn, die deutsche Guck-auf-die-Welt-Software Terra Vision scheiterte im Wettlauf mit Google Earth.
Deutschland erschafft Technologien – doch andere verdienen daran. Denn Deutschland entwickelt nicht nur Lösungen, sondern auch gleich die dazu passenden Richtlinien. Etwa die Idee, dass Plattform-Betreiber haften müssen für die Inhalte, die von den Nutzern eingestellt werden.
Wir haben außerdem den Digital Services Act, den Digital Markets Act und das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Diese Gesetze sind alle richtig und wichtig und dienen dem Schutz der User. Doch zugleich hegen sie die deutschen und europäischen Anbieter ein und bremsen sie aus – während die Konkurrenz in Amerika und Asien wächst und wächst und wächst.
Digitales Detox für Deutschland?
Lässt sich angesichts der vielen verpassten Chancen da noch etwas retten?
Medienexperte Andree träumt laut von einem radikalen Umstieg auf hauseigene Digitallösungen. Das würde zwar einige Jahre lang „ruckeln“, doch dann „wären wir unabhängig“. Angesichts des Tempos, mit dem die digitale Transformation voranschreitet, kann man darüber nur den Kopf schütteln: Einen jahrelangen Rückfall in das analoge Zeitalter können sich Deutschland und Europa schlicht nicht leisten.
Und was sagt der neu installierte Digitalminister?
Immerhin hat sich Politik-Neuling Karsten Wildberger das Thema der digitalen Souveränität ganz oben auf die To-do-Liste geschrieben. „Wenn wir nicht digital souverän werden in den nächsten Jahren, dann haben wir eine ganz andere Abhängigkeit“, warnt er: „Unsere etablierte Industrie ist in großer Gefahr.“
Digitalminister setzt auf KI als Game Changer
Der ehemalige Topmanager Wildberger möchte zum einen, dass wir unsere „Liebe zur Innovation ein Stück weit wiederentdecken“. Das allein wird allerdings nicht ausreichen. Deshalb setzt er nun auf Künstliche Intelligenz als Game Changer. Die Technologie berge die Chancen für einen Neustart in Sachen digitale Emanzipation: „Ich möchte mir keine Welt ausmalen, wo wir von dieser Technologie nur Kunde sind.“
Bevor der Zug in Richtung Zukunft aber richtig Fahrt aufnimmt, hat die EU bereits reagiert – mit dem „EU-Gesetz für künstliche Intelligenz“ oder kurz „AI Act“. Offiziell soll er Unternehmen, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten, einen verbindlichen Rahmen und damit Rechtssicherheit bieten. Leichter wird die Erfindung der Zukunft damit für europäische Innovatoren allerdings nicht.