Fatale Bilanz: Darum gibt es kaum noch Bürgergeld-Kürzungen
Empfänger von Bürgergeld sehen sich deutlich weniger mit Sanktionen konfrontiert. Die Union kritisiert die Entwicklung. Was ist die Ursache für den Rückgang?
Berlin – Die Ampel-Koalition war mit ambitionierten sozialpolitischen Plänen gestartet. Erwerbslose sollten im Bürgergeld eine gezielte Förderung erhalten und damit langfristig wieder in Arbeit gebracht werden. Doch das System steht wegen steigender Arbeitslosigkeit, einer großen Anzahl von Geflüchteten aus der Ukraine und steigenden Kosten unter Druck. Gleichzeitig muss auch der Bund sparen. Die Regierung reagierte mit härteren Regeln – eine Rückkehr zu Hartz IV, wie Kritiker bemängeln.
Bürgergeld in der Kritik: Sanktionen gehen seit Jahren deutlich zurück
Mit Blick auf die Sanktionen für Empfänger von Bürgergeld – und auch dessen Vorgänger Hartz IV – zeigt sich jedoch, dass Jobcenter die Strafmaßnahmen immer weniger nutzen. „Leistungsminderungen werden aktuell im Vergleich mit den Jahren vor 2019 seltener und in geringerer Höhe ausgesprochen“, erklärte das Bundesarbeitsministerium in einer Antwort auf eine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, die IPPEN.MEDIA vorliegt. Die Zahlen zeigen einen drastischen Rückgang der Sanktionen beim Bürgergeld: 2013 hat es noch etwas mehr als eine Million Kürzungen gegeben. Zehn Jahre später waren es 226.000.
Jahr | Anzahl der Leistungsminderungen |
---|---|
2013 | 1.006.489 |
2014 | 997.572 |
2015 | 978.809 |
2016 | 939.133 |
2017 | 952.839 |
2018 | 903.821 |
2019 | 806.811 |
2020 | 171.112 |
2021 | 193.729 |
2022 | 148.488 |
2023 | 226.008 |
2024 (Januar bis Juli) | 201.959 |
Die zurückgehende Zahl der Sanktionen liegt nicht alleine an der Bürgergeld-Reform. Darauf verweist auch das Arbeitsministerium in der Antwort. Grund für den Rückgang ist demnach das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom November 2019. Darin hatten die Karlsruher Richter Kürzungen über 30 Prozent als unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum eingestuft.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist Grund für Rückgang der Bürgergeld-Sanktionen
Die Bürgergeld-Reform setzte das Urteil zwar letztendlich in Form eines Gesetzes um. In der Praxis habe eine Weisung der Bundesagentur für Arbeit bereits zu einer „zurückhaltenden Anwendung“ der Sanktionen geführt. Neben dem Urteil spielten zudem Effekte der Corona-Krise sowie des Sanktionsmoratoriums in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 eine Rolle. Tatsächlich kam es bei der Zahl der Sanktionen von 2019 (806.811 Sanktionen) auf 2020 (171.112) zu einem Bruch. 2022 stellte mit knapp 150.000 Sanktionen den Tiefpunkt dar.
Mit der Einführung des Bürgergelds zum 1. Januar 2023 ging die Zahl der Sanktionen anschließend wieder nach oben. Und auch die weiteren Verschärfungen der Regierung 2024 spiegeln sich in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit wider. Allein im ersten Halbjahr 2024 haben Jobcenter 201.959 Leistungsminderungen verhängt. Für 2025 wollte die Ampel-Koalition die Anforderungen an Empfänger weiter erhöhen und Sanktionen verschärfen. Durch den Koalitionsbruch sind die Bürgergeld-Verschärfungen vom Tisch – zumindest bis eine neue Regierung das Thema angeht.
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Weniger Bürgergeld-Empfänger in Arbeit: Welche Rolle spielt geringere Anzahl an Sanktionen?
Neben der geringeren Zahl der ausgesprochenen Sanktionen sind 2023 zudem etwas mehr als 775.000 Menschen aus dem Bürgergeld in Arbeit gekommen. Im Vergleich zu der Zeit vor der Bürgergeld-Reform ist das ein Rückgang: 2019 waren es etwa eine Million. Für die Arbeitsaufnahme ist das ein Problem, wie bereits eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Mai gezeigt hat. Demnach reduziere das Bürgergeld den Anreiz, zu arbeiten. Weniger Sanktionen waren eine Ursache – neben einem längeren Schutz des Vermögens.
„Der Anteil der tatsächlich Sanktionierten an allen Leistungsempfängern ist gering. Dementsprechend spielen die Wirkungen auf die Sanktionierten für die gesamten Jobaufnahmen auch keine große Rolle“, erklärte auch Enzo Weber, Arbeitsmarktforscher am IAB und Autor der Studie, IPPEN.MEDIA. Die Bürgergeld-Empfänger passen jedoch ihr Verhalten an, um nicht sanktioniert zu werden. „Diese Reaktionen fallen stärker aus, wenn Sanktionen wahrscheinlicher sind.“
Richtiges Maß an Bürgergeld-Sanktionen entscheidend – Union will Härte
„Sanktionen erhöhen die Jobaufnahmen“, stellte Weber klar. Es komme jedoch nicht auf „eine möglichst scharfe Ausgestaltung, sondern auf das richtige Maß“. Der IAB-Ökonom warnte: „Je stärker der Druck, desto wahrscheinlicher wird es aber auch, dass Arbeitssuchende Jobs antreten, die keine lange Perspektive bieten und bald wieder in Arbeitslosigkeit enden.“ Neben der „Verbindlichkeit des Systems“ komme es für eine Vermittlung in Arbeit auf „Qualifizierung, individuelle Unterstützung und Betreuung sowie gute Anreize an“, erklärte Weber.
Die Union sieht sich durch die Bürgergeld-Zahlen zu Sanktionen, Arbeitsaufnahmen und Kosten in der Kritik an der Ampel-Reform bestätigt. „Als CDU/CSU haben wir von Beginn an auf die gravierenden Schwächen des Bürgergelds hingewiesen: Das Bürgergeld bringt keine Arbeitsanreize, es fördert keine Integration in Arbeit und es belastet die Steuerzahler“, erklärte der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der Union Stephan Stracke IPPEN.MEDIA. Das Bundesarbeitsministerium beobachtet laut der Antwort dagegen „substanzielle Neuerungen und Verbesserungen in der Grundsicherung“.
Dennoch: Die Konservativen wollen das Bürgergeld abschaffen und im Rahmen der „neuen Grundsicherung“ härtere Sanktionen durchsetzen – bis zur vollständigen Streichung der Leistungen. Dabei könnte das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2019 ein Hindernis der Unionspläne sein.