Nach dem Tod von Hamas-Geiseln: Streikwelle nimmt Netanjahu in die Zange
Am Wochenende hatten erneut Hunderttausende in Israel Ministerpräsident Netanjahu aufgefordert, einem Geiseldeal zuzustimmen. Doch der will wie bisher weitermachen.
Tel Aviv - Nach dem Fund der Leichen von sechs Geiseln im Gazastreifen hat in Israel ein großer Streik begonnen. Viele Städte und Gemeinden schlossen sich dem Protest an, andere verweigerten dies, weil sie eher der rechtsreligiösen Regierung von Benjamin Netanjahu nahestehen. Beim Flugverkehr auf dem internationalen Flughafen Ben-Gurion bei Tel Aviv kam es nach Medienberichten zu Störungen und Verzögerungen, obwohl die Flughafenbehörde mitgeteilt hatte, alles werde planmäßig verlaufen. Es gab Berichte über lange Warteschlangen. Inzwischen verläuft der Flughafenbetrieb aber weitestgehend normal.
Nach Leichenfund von Geiseln in Gaza: Gewerkschaften wollen Druck auf Netanjahu erhöhen
Der Gewerkschafts-Dachverband hatte am Sonntag angekündigt, er wolle das Land einen Tag lang zum Stillstand bringen. Ziel ist es, den Druck auf Regierungschef Benjamin Netanjahu zu erhöhen, damit er einem Deal zur Freilassung der verbliebenen Geiseln zustimmt. In vielen Städten blieben unter anderem Kindergärten, Banken und Behörden geschlossen. Auch der öffentliche Verkehr war betroffen. Bereits am Sonntag hatten Hunderttausende bei den größten Massenprotesten seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast elf Monaten ein sofortiges Abkommen mit der islamistischen Terrororganisation Hamas gefordert.
Laut dem „Forum der Geisel- und Vermisstenfamilien“ (Sonntagabend) nahmen landesweit eine halbe Million Menschen an den Protesten teil, darunter 300.000 an der zentralen Demonstration in Tel Aviv. Sie erneuerten ihre Forderungen nach einem sofortigen Abkommen zur Freilassung der 101 Geiseln, die vor 332 Tagen nach Gaza verschleppt wurden. Angehörige der Geiseln warfen der Regierung und Regierungschef Benjamin Netanjahu vor, einen Deal aus politischem Eigeninteresse zu verzögern und damit mit dem Leben der Geiseln zu spielen.

Netanjahu auch in eigener Regierung unter Druck: Hardliner Smotrich und Ben Gvir drohen mit Ende der Regierung
Der rechtsradikale Finanzminister Bezalel Smotrich wollte den Generalstreik per einstweiliger Verfügung verhindern, mit der Begründung, es handele sich um einen „politischen Streik“. Vor dem Arbeitsgericht teilte der Gewerkschafts-Dachverband Histadrut daraufhin mit, der Streik werde verkürzt. Er solle um 18.00 Uhr Ortszeit (17.00 Uhr MESZ) enden, zwölf Stunden früher als geplant. Smotrich lehnt ebenso wie der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben Gvir Zugeständnisse an die Hamas ab und drohte Ministerpräsident Netanjahu mehrfach mit dem Platzen der Regierung.
Israel im Krieg mit der Hamas: EU-Chefdiplomat Borell fordert Waffenstillstand
Der Druck auf Netanjahu wächst dagegen weiter, damit dieser einem Deal mit der Hamas sowie einem Waffenstillstand zustimmt. Der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, hatte sich über den Tod der israelischen Geiseln auf X entsetzt gezeigt. „Diese jungen, unschuldigen Männer und Frauen hätten längst in Sicherheit und zu ihren Angehörigen gebracht werden müssen. Wir stehen an der Seite aller Geiseln. Wir brauchen einen Waffenstillstand, um diese Tragödie zu beenden und alle Geiseln nach Hause zu bringen“.
Meine news
Proteste in Israel: Oppositionsführer Lapid nennt Regierung „Kabinett des Todes“
Auch aus der Opposition wird die Kritik an Netanjahu immer schärfer. „Netanjahu und das Kabinett des Todes haben beschlossen, die Geiseln nicht zu retten“, schrieb Oppositionsführer Yair Lapid auf X. Sie seien für den Tod der Geiseln verantwortlich. Das Sicherheitskabinett hatte in der Nacht zum Freitag entschieden, israelische Truppen am sogenannten Philadelphi-Korridor im Süden des Gazastreifens zu belassen. Kritiker Netanjahus warfen ihm vor, er habe sich damit de facto dafür entschieden, die Geiseln zu opfern.
Netanjahu muss sich entscheiden, ob er die Regierung weiter fortsetzt oder doch den Forderungen von den Straßen nachgibt und damit einen Bruch der Koalition riskiert. Netanjahu hatte am Sonntag der Hamas mit Vergeltung gedroht. Man werde die Entführer jagen, gefangen nehmen und mit ihnen abrechnen, schrieb der israelische Ministerpräsident auf X. Einem Waffenstillstand wird Netanjahu deswegen wohl kaum zustimmen. (erpe/dpa/AFP)