Analyse zum Ukraine-Krieg - Der verzweifelte Kampf am Dnipro birgt zwei bittere Erkenntnisse
Laut ISW ist die Region im Kriegvon großer strategischer Bedeutung. Sie könnte Ausgangspunkt einer ukrainischen Gegenoffensive sein. Die Halbinsel Krim, die derzeit unter russischer Kontrolle steht, liegt nur rund 70 Kilometer entfernt.
Gelänge es den Streitkräften, diese Distanz zu überwinden, wäre die direkte Verbindung Russlands zum ukrainischen Festland unterbrochen. Für Moskau wäre das wohl ein empfindlicher Verlust.
Für eine mögliche ukrainischen Gegenoffensive stellt jedoch neben den russischen Truppen das Gelände eine besondere Herausforderung dar: Es ist durchzogen von Minenfeldern, teilweise sandigem Untergrund und ausgedehnten Sumpfgebieten.
Aktivitäten am Dnipro offenbaren zwei bittere Erkenntnisse
Was sich am Dnipro abspielt und wie ein Heldenepos klingt, offenbart indes zwei bittere Erkenntnisse, meint der ehemalige Oberst der Bundeswehr und Militärexperte Ralph Thiele. Die Situation zeigt in seinen Augen einen fragwürdigen Umgang mit Soldaten und Zivilisten.
„Nach der Vertreibung der russischen Besatzung aus Cherson feuerten die Russen über den Dnipro ständig auf die Stadt und die Soldaten, die in einer todesmutigen - und auch etwas verzweifelten - Aktion den Dnipro überquerten, um einen Brückenkopf für einen Gegenangriff gegen die Russen zu bilden“, sagt Thiele im Gespräch mit FOCUS online.
Das Gelände im Südosten biete zwar beiden Seiten die Möglichkeit, dort auszuharren, wo sie sind. Doch Drohnen- und Artillerieangriffe der Gegenseite bleiben eine ständige Gefahr.
Experte glaubt nicht, dass Ukrainer genügend Truppen und Material zusammenbekommen
Besonders beunruhigend findet Thiele: „Der ukrainische Brückenkopf besteht im Wesentlichen aus den Körpern und der persönlichen Bewaffnung der ukrainischen Soldaten. Sie haben keinen nennenswerten Schutz und müssen sich bei russischen Angriffen wegducken.“
Er glaubt nicht, dass die Ukrainer genügend Truppen und Material für einen Gegenangriff auf der anderen Seite des Flusses zusammenbekommen.
„Sie harren dort als eine ´verlorene´ Truppe aus und dürften wahrscheinlich einen hohen Preis an Toten und Verwundeten dafür bezahlen“, sagt er. Das Überleben bei Kälte, Nässe, Ratten und anderem Ungeziefer biete zudem entsetzliche Bedingungen und wenig Hoffnung auf Besserung.
Auf ukrainischer Seite wird immer wieder von einem akuten Mangel an notwendigen Ressourcen für derartige militärische Gegenoffensive berichtet. Insbesondere fehlt es an Luftunterstützung, ein kritischer Punkt in der aktuellen strategischen Lage, merken ukrainische Militärs immer wieder an.
„Kleine, kluge, mutige, verzweifelte und asymmetrische Operationen im Rücken des Gegners“
Ein Hoffnungsschimmer könnte in der angekündigten Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen liegen, die eine entscheidende Rolle bei der Sicherung des Luftraums spielen und das Vordringen russischer Flugzeuge in Frontnähe verhindern könnten.
Das geschilderte Vorgehen der Spezialeinheiten lässt aber bereits Rückschlüsse auf die Zukunft der ukrainischen Kriegsführung im Falle eines Frontbruchs zu, merkt Thiele an.
Die Ukrainer werden dann auf „kleine, kluge, mutige, verzweifelte und asymmetrische Operationen im Rücken des Gegners setzen, die auf Logistik, kritische Infrastruktur und Kollaborateure zielen“, sagt der Militärexperte.
„Der Partisanenkampf war und ist immer blutig - und er wird mit der Zeit brutaler.“ Das sei keine gute Geschichte - und keine gute Perspektive, so der ehemalige Oberst der Bundeswehr.