Die Wirtschaftsministerin fordert eine Steigerung der Lebensarbeitszeit. Aus der Wirtschaft und von Sozialverbänden kommt sowohl Ablehnung als auch Zustimmung.
Berlin – Die Rentenversicherung steht unter Druck: Immer weniger Einzahler müssen für immer mehr Bezieher aufkommen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist für Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) eine Steigerung der Lebensarbeitszeit. Sie hat die Deutschen aufgefordert, mehr und länger zu arbeiten.
Mit ihrem Vorstoß hat Reiche eine Kontroverse ausgelöst. In den vergangenen Monaten hatten sich bereits Bundeskanzler Friedrich Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ähnlich geäußert. Heftige Kritik kommt dagegen vom CDU-Sozialflügel, der SPD und den Linken.
Kontroverse um Reiches Vorstoß zum Renteneintrittsalter: Sozialverbände üben heftige Kritik
Die Reaktionen der Sozialverbände fallen nicht überraschend aus. Durch ein mögliches Credo, dass die Menschen länger arbeiten könnten, dürfe es nicht „zu einer Anhebung des Renteneintrittsalters durch die Hintertür kommen“, sagt Michaela Engelmeier, Vorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) .
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) spricht sich gegen einen späteren Eintritt in die Rente aus. „Für gute Renten muss jetzt auf der Einnahmeseite der Rentenversicherung mehr reinkommen“, so DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die Mütterrente müssten aus Steuergeldern und nicht aus der Rentenkasse bezahlt werden.
Kontroverse um Reiches Vorstoß zum Renteneintrittsalter: Arbeitgeberpräsident für Mehrarbeit
Aus der Wirtschaft kommen jedoch gegensätzliche Signale. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, der bereits vor einem Kollaps des Sozialstaates warnte, reagiert positiv auf Reiches Vorstoß. „Wirtschaftsministerin Reiche spricht Klartext – und das ist gut so. Wer jetzt mit Empörung reagiert, verweigert sich der Realität“, sagt Dulger der Nachrichtenagentur dpa. Die CDU-Politikerin fordere eine umfassende Reformagenda, die auch die sozialen Sicherungssysteme einschließt.
Wer angesichts der demographischen Entwicklung weiter den Kopf in den Sand stecke, versage vor der Verantwortung gegenüber kommenden Generationen. „Deutschland muss wieder mehr arbeiten, damit unser Wohlstand auch morgen noch Bestand hat“, mahnt Dulger.
Kontroverse um Reiches Vorstoß zum Renteneintrittsalter: Ökonom bezeichnet Vorschlag als überfällig
Auch Bernd Raffelhüschen äußert sich positiv. „Der Vorstoß von Ministerin Reiche ist überfällig und generationengerecht“, sagte der Wirtschaftsökonom der Bild-Zeitung. Deutschland habe es „seit Jahrzehnten versäumt, das Renteneintrittsalter an die massiv gestiegene Lebenserwartung anzupassen, das war und ist der Fehler“.
Laut Raffelhüschen haben Menschen, die in den 1960er oder 70er Jahren in den Ruhestand gingen, für ein Jahr Rente 4,5 Jahre gearbeitet. Aktuell liege das Verhältnis bei zwei Jahren Arbeit für ein Jahr Rentenbezug. Dies sei eine gewaltige Rentenerhöhung, über die niemand spreche.
Kontroverse um Reiches Vorstoß zum Renteneintrittsalter: Für Mittelständische Wirtschaft nicht zielführend
Der Bundesverband Mittelständische Wirtschaft hat jedoch zurückhaltend reagiert. Wichtiger sei eine Steigerung der Produktivität, sagt Verbandsgeschäftsführer Christoph Ahlhaus den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Unternehmenssteuern und Sozialversicherungsbeiträge runter - und weg mit überflüssiger Bürokratie.“ Das helfe der deutschen Wirtschaft mehr als „ein lähmender Koalitionskrach um die verlängerte Lebensarbeitszeit“.
Zwar habe Ministerin Reiche recht, „wenn sie sagt, dass wir im wirtschaftlichen Abstiegskampf wieder einen Gang hochschalten müssen“, so Ahlhaus weiter. Vor allem aber müsse die Wirtschaft „endlich wieder produktiver werden“. Konkret heiße das: „Mehr schaffen, wenn wir schaffen.“ Dazu müsse die Bundesregierung die Unternehmen wieder in die Lage versetzen, gezielt in die Produktivität investieren zu können.
Kontroverse um Reiches Vorstoß zum Renteneintrittsalter: Skepsis bei Wirtschaftswissenschaftlerinnen
Die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Veronika Grimm und Monika Schnitzer hatten bereits im Mai skeptisch reagiert. Grimm sieht besonders viel Potenzial in einer stärkeren Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, etwa durch eine Verbesserung der Kinderbetreuung. Schnitzer nannte die Abschaffung des Ehegattensplittings als konkrete Maßnahme.